Himalaja-Expertin Billi Bierling „Wir werden förmlich überrannt“

1998 reist Billi Bierling das erste Mal nach Nepal. Seit 2009 hat sie sechs Achttausender im Himalaja erklommen. Foto: privat

Billi Bierling aus Garmisch stand schon auf sechs Achttausendern. Im Interview spricht die Frau, die seit 2004 in Kathmandu lebt, über den Andrang im Himalaja, Pizzalieferungen am Berg und erschwindelte Gipfelerfahrungen.

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich besser mit den höchsten Bergen dieser Welt auskennt als Billi Bierling – nicht nur aus eigener Erfahrung. Die Garmischerin hat für die „Himalayan Database“ mehr als 2000 Gipfelstürmer zu ihren Erlebnissen befragt. Im Interview erzählt sie, warum Bergsteiger-Ikonen wie Reinhold Messner Gipfel entzogen wurden, und verrät, was sie noch vorhat im Himalaja.

 

Frau Bierling, der Liedermacher Hubert von Goisern hat mal gesagt, dass ihn eine vollkommen flache Landschaft depressiv mache. Geht es in Ihnen genauso?

Bei mir war es früher genau andersherum. Die Berge haben mich – und Garmisch ist ja von denen total eingekesselt – massiv eingeengt. Als Freigeist waren mir damals die Berge immer im Weg. Eigentlich fand ich früher alles, was mit den Bergen zu tun hatte, schrecklich. Vor allem das Wandern mit meinen Eltern war für mich eine Tortur.

Heute kraxeln Sie auf die höchsten Berge der Welt.

Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ich bin immer noch keine leidenschaftliche Wanderin. Das, was mir Spaß macht, sind Ultraläufe wie der 100-Kilometer-Run rund um die Zugspitze. Bin ich in Nepal, ziehen mich die majestätischen Berge magisch an. Wenn ich auf einem Achttausender stehe, dann bedeutet das für mich Freiheit – und pures Glück.

Was gibt Ihnen das Bergsteigen?

Für mich zählt die körperliche Herausforderung. Nehmen Sie nur den Broad Peak. Vor vier Jahren habe ich 36 Stunden vom Hochlager bis zum Gipfel des Achttausenders gebraucht, danach war ich vier Wochen schlapp. Das war so unfassbar anstrengend, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Aber mit einem solchen Ultra-Run begeistern Sie heute niemanden mehr. Wenn Sie aber jemandem sagen, dass Sie schon mal auf dem Mount Everest standen, dann finden das die Leute klasse. Das, was früher der Marathon war, ist heute ein Achttausender. Ich muss aber auch sagen, dass viele Leute, die einigermaßen fit sind, heute eine gute Chance haben, mithilfe von Sherpas und Fixseilen auf den Everest zu kommen.

Seit 2004 arbeiten Sie in Kathmandu bei der „Himalayan Database“, das ist die weltgrößte Datenbank für die hohen Berge in Nepal. Was machen Sie genau?

Bis vor fünf, sechs Jahren haben wir mit allen Menschen, die nach Nepal für eine Expedition reisten, Interviews geführt. Damit wollen wir als Chronisten alles, was die Bergsteiger bei uns machen, für die Nachwelt festhalten. Ich will schon im Vorfeld wissen, welche Route sie nehmen werden, ob sie Sauerstoff einpacken, wie viele Fixseile sie mitschleppen. Allerdings werden wir förmlich überrannt.

Was meinen Sie damit?

Es sind einfach viel zu viele Bergsteiger. Wir sind eine Non-Profit-Organisation mit sechs Leuten. Wir sind für 471 Berge in Nepal zuständig und haben bis heute die Daten von 81 985 Menschen archiviert. Miss Elizabeth Hawley, der Gründerin der „Himalayan Database“, war es immer wichtig, die Menschen vor und nach ihrer Expedition zu sprechen. „We have to get their personal details from them. If they die on the mountain, it’ll be too late.“ Übersetzt: Wenn sie dort oben sterben, können wir sie nicht mehr befragen.

Wie viele Interviews haben Sie bis dato geführt?

Ich schätze mal so um die 2000.

Was ist aber der Sinn der Datenbank? In den Alpen gibt es ja auch keine.

Wir dokumentieren, wie sich das Höhenbergsteigen über all die Jahre entwickelt hat. Über die Erstbesteigungen in der Himalajaregion – wissen wir fast alles! Über sämtliche Routen, die auf einen Achttausender in Nepal führen – wissen wir auch fast alles!

Sie standen selbst auf sechs Achttausendern. Es gibt aber auch viele Betrüger und Schwindler in Ihrer Region.

Das gehört auch zur Wahrheit. So wie das indische Ehepaar, das anhand von Fotos beweisen wollte, dass es auf dem Everest stand. Miss Hawley glaubte den beiden, so wie ich auch erst mal allen Menschen unvoreingenommen gegenübertrete. Im Nachhinein stellte sich bei den beiden, die auch noch als Polizisten arbeiteten, heraus, dass sie ihre Bilder mit Photoshop fälschten. Die beiden wurden natürlich in der „Himalayan Database“ mit einem „unrecognized“, also „nicht anerkannt“, versehen.

Warum schwindeln die Leute?

Ich denke, dass der eigene Anspruch sowie der Druck der Sponsoren und sozialen Medien immer größer geworden ist. Das bringt wohl manche Leute dazu, es mit der Wahrheit nicht ganz ernst zu nehmen. Und manche täuschen sich auch im Gipfel. Vor ein paar Jahren interviewte ich eine Frau, die sich freute, als erste Schwedin auf dem Manaslu gestanden zu haben. Voller Stolz zeigte sie mir ihre Bilder. Daraufhin musste ich ihr leider mitteilen, dass sie auf dem falschen Gipfel stand. Ich brachte es kaum übers Herz, der armen Frau ihren Gipfel nicht anzuerkennen. Glauben Sie mir, ich kenne das.

Wie meinen Sie das?

2010 und 2011 stand ich auf dem Punkt des Manaslu, der bis dahin als höchster Punkt galt. Damals waren wir alle davon überzeugt, dass dies der Gipfel war. Als jedoch im Herbst 2021 der nepalesische Bergführer Mingma G und sein Team am bislang höchsten Punkt vorbeistiegen und am Ende des Grates einen noch höheren Punkt erreichten, war klar, dass viele Bergsteiger vor ihnen den richtigen Gipfel gar nicht erreicht hatten. Es ging noch 20 Meter weiter – und höher.

Wie kann das sein?

Der Manaslu oder die Annapurna sind keine klassischen Gipfel wie der Everest oder K2, sondern sie bestehen aus einem langen Grat. Dort oben kann es leicht zu einer Fehleinschätzung der Höhe kommen.

Auch Reinhold Messner stand 1985 nicht auf dem Gipfel der Annapurna, sondern 65 Meter davon entfernt. Auch ihm wurde der Gipfel entzogen.

Wir sind eine Datenbank, keine Schiedsrichter-Vereinigung. Ich weiß nicht, ob man die Geschichte deswegen neu schreiben muss. Reinhold Messner wird meiner Meinung nach immer der erste Mensch auf der Welt bleiben, der alle 14 Achttausender bestieg.

Was hat sich in den vergangenen Jahren beim Bergsteigen verändert?

Der Komfort. Ich habe wirklich schon fast alles gesehen bis hin zu einem Koch, der Mousse au Chocolat mit frischen Himbeeren einfliegen ließ. Yogakurse, Espressomaschinen bis hin zu aufblasbaren pinken Sofas sind inzwischen normal. Und dass, was Simone Moro mir mal erzählte, verwundert mich noch heute. „Ich komme mir manchmal vor wie Amazon“, hat er zu mir gesagt, nachdem er einmal zwölf Pizzen mit einem seiner Materialflüge von Kathmandu ins Everest-Basislager mitnahm.

Was haben Sie persönlich noch vor?

Eigentlich wollte ich nie auf den Everest. Als ich aber irgendwann ein paar Hundert Interviews hinter mir hatte, dachte ich: Mensch, Billi, wenn die das können, kannst du das auch. Nun habe ich sechs geschafft. Auf den K2, den Kangchendzönga und die Annapurna 1 werde ich sicherlich nicht gehen, die sind mir zu schwer und zu gefährlich. Mir reicht ein weiterer Achttausender. Dann hätte ich die Hälfte. Und ich sage immer, dass ich nur halb so gut bin wie diejenigen, die alle 14 Achttausender besteigen. Wenn das aber nicht klappt, ist es auch nicht schlimm. Momentan bin ich glücklich, dass ich Zeit mit meiner fast 90-jährigen Mutter verbringen kann, und diese Zeit ist mir gerade wichtiger als eine wochenlange Expedition.

Die Liebe zu den Bergen kam spät

Vita
Billi Bierling wurde 1967 in Garmisch-Partenkirchen geboren. Erst mit 24 Jahren begann sie mit der Felskletterei. 1998 reiste sie zum ersten Mal nach Nepal und war von Land, Leuten und der Höhenbergsteigerei begeistert. 2004 zog sie nach Kathmandu. Bierling hat sechs Achttausender bestiegen: den Mount Everest, Lhotse, Makalu, Manaslu, Cho Oyu und Broad Peak.

Bücher
Bierling ist freischaffende Journalistin und hat an mehreren Publikationen mitgewirkt. Am 18. Februar erscheint ihr neues Buch „Ich hab ein Rad in Kathmandu“.

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