Die Bauarbeiten am Humboldt-Forum im Schlossnachbau gehen zügig voran. Derweil herrscht bei Politik, Senatsverwaltung und Bürgern Einigkeit, dass das Umfeld dringend verbessert werden muss.

Berlin - Wo ist die Berliner Mitte? Darauf gibt es eine Menge Antworten, und wahrscheinlich würden die meisten Berliner dieser hier zustimmen: Kommt darauf an. Darauf, wohin man sich orientiert, wonach man fragt. Es gibt Orte wie den Alexander- oder den Potsdamer oder den Pariser Platz, es gibt das Brandenburger Tor, den Reichstag oder das Rote Rathaus, die Museumsinsel oder das Stadtschloss, es gibt einen Bezirk, der so heißt, und einen U-Bahnhof Stadtmitte, aber der liegt verwirrenderweise an der Friedrichstraße. Es ist kein Zufall, dass in Berlin jeder etwas anderes unter Stadtmitte verstehen kann – das schnelle Wachstum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Zusammenschluss zu „Groß-Berlin“ und später die Teilung über vierzig Jahre haben Berlin zu einer polyzentrischen Stadt gemacht.

 

Das Stück Stadt, das historisch neben dem Gründungskern die Alte Mitte ausmachte, sieht heute traurig aus. Zwischen Fernsehturm und Spree, wo sich vom 13. Jahrhundert an die Häuser der Neustadt schmalbrüstig aneinanderdrängten, liegt heute vor allem viel freie, schlecht gestaltete Fläche, flankiert von der vierspurigen Karl-Liebknecht-Straße auf der einen, der Grunerstraße auf der anderen Seite und unterbrochen von der Marienkirche, dem Neptunbrunnen und dem Marx-Engels-Forum. Dazu gibt es jede Menge Baustellen.

Genutzt wird dieses Quartier intensiv: Tausende wohnen in den Plattenbauten ringsum, die zu DDR-Zeiten den Eliten vorbehalten waren, Touristen, Studenten und Pendler suchen sich ihre Wege zwischen Museumsinsel, Schlossplatz und Universität, allein 1,2 Millionen im Jahr besuchen den Fernsehturm. Am Bahnhof Alexanderplatz steigen 120 000 Fahrgäste täglich aus oder um, dazwischen hängen Jugendliche ab, es ist rummelig, Straßenhändler und Musiker stehen an den Wegkreuzungen, die Gegend um den Alexanderplatz gilt als Kriminalitätsschwerpunkt. Es gibt Streetworker, ein Platzmanagement, Anwohnerinitiativen. Die U-Bahn-Linie U5 wird gerade verlängert, vor dem Rathaus entsteht ein U-Bahnhof, rund um die Marienkirche wird der Eingangsbereich neu gestaltet – und am westlichen Rand entsteht auf dem Areal des früheren Stadtschlosses der riesige Nachbau, der mit dem Humboldt-Forum zum Anziehungspunkt im Herzen der Stadt werden soll.

Berlin neigt zu Bretterbudenprovisorien

2019 soll das Humboldt-Forum eröffnen. Und dann wird sich hier vollziehen, was man in Berlin in den vergangenen zwanzig Jahren an verschiedenen anderen Orten beobachten konnte – rund um den Reichstag zum Beispiel, ums Holocaust-Mahnmal, am Checkpoint Charlie, an der Topografie des Terrors. Wie auf Ameisenstraßen werden die Besucher sich hier durch die Stadtlandschaft schlängeln, und sie werden Bedürfnisse haben. Wenn plötzlich große Besuchermassen auf ein schwach gestaltetes Stück Stadt treffen, dann neigt der Berliner zu Bretterbudenprovisorien, und die sind ebenso traurig wie dauerhaft.

Rund dreieinhalb Millionen Besucher im Jahr erwartet der Berliner Senat nach der Eröffnung des Humboldt-Forums rund um das Areal. Das wäre mehr als eine Verdopplung im Vergleich zu jetzt. Auch jetzt schon ist dies hier einer der schlechteren Orte, um zu verweilen. Dabei böte er alle Chancen. Das Ufer der Spree könnte zugänglich und nutzbar gemacht werden, es gäbe Raum für Spazierwege und unterteilte Grünflächen, für gastronomische Angebote und kleine Plätze. Die Stadt befindet sich eigentlich in einer luxuriösen Lage. Wo andere Metropolen unter engster Bebauung ächzen, hat Berlin an historischer Stelle einen Freiraum, ein Flussufer – einen sensationellen Ort.

Es pressiert mit der Frage, wie die historische Mitte in Zukunft aussehen soll, eigentlich. Das allerdings ficht diejenigen, die in Berlin planen, nicht an. Seit Jahren existiert eine Kontroverse, ob dieses Gebiet bebaut oder hauptsächlich als Freifläche erhalten bleiben soll. Schon in der Koalitionsvereinbarung für 2006 bis 2011 war die Entwicklung ein Ziel, 2009 gab es dazu einmal einen breit angelegten Workshop, der jedoch erst gar nicht auf eine verbindlichere Planung abzielte. Und nun, acht Monate vor den Wahlen, kann man sagen, dass auch die zweiten fünf Koalitionsjahre ins Land gegangen sein werden, ohne dass Berlin einer Idee für seine Mitte konkret wirklich nähergekommen wäre.

Debatten und Dialogversprechen

Dabei hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im vergangenen Jahr den vermutlich bisher aufwendigsten Dialogprozess aufgesetzt, den es für solch ein Projekt gab: die sogenannte „Stadtdebatte Alte Mitte – Neue Liebe“. Das offizielle Ziel: ein möglichst großer Kreis der Stadtbewohner soll sich an der Diskussion über die Zukunft der Berliner Mitte beteiligen und, flankiert von einem Kuratorium aus Fachleuten und Vertretern von Lobbygruppen, Ziele formulieren, damit das Parlament mit dieser Grundlage arbeiten kann.

„Das ist für uns ein Experiment, als Senat in ein solches Verfahren zu gehen und mal nichts vorzugeben und zu sagen, wir hören zu“, sagte der Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) zu Beginn, und seine Senatsbaudirektorin Regula Lüscher sprach von einem „wirklich ergebnisoffenen Prozess“. Im Berlin Congress Center gaben die Verantwortlichen bei einer Auftaktveranstaltung im April ein offizielles „Dialogversprechen“, danach organisierte man einen Onlinedialog, geführte Touren durch das Gebiet, ein Dialog-Café, Straßentheater, Kolloquien mit Experten, Bürgerwerkstätten. Zum Ende des Prozesses im November sprach Geisel in aller Bescheidenheit davon, dass sich hier eine „neue Vision für Mitte“ kristallisiert habe. Konkret sind aus fünfzehn Thesen zehn Bürgerleitlinien destilliert worden, die teilweise sehr viel Spielraum für Interpretationen lassen – und selbst diese sind noch unter den Teilnehmern umstritten.

Das vielleicht wichtigste Ergebnis: die Vorstellung, das Areal dicht zu bebauen, wurde von jenen, die am Dialog teilnahmen massiv abgelehnt. Auch sprachen sich die meisten gegen eine Kommerzialisierung des Ortes aus – was nicht verwundert, wenn Bewohner, Naturschützer, Stadtplaner und kommunale Vertreter zusammenkommen.

Offene Fragen zuhauf

Die Mitte solle auch künftig ein „Ort für alle“ sein, so lautet die erste Leitlinie, die Geschichte der Stadt solle besser erlebbar werden. Die Mehrheit wünscht sich weniger Verkehr und mehr Grün, wohlgemerkt auf der Radiale von West nach Ost. Einen Ort für Demokratie, Kultur und für Naherholung stellt man sich vor, die Verbindung zur jetzt eingesperrten und kaum zugänglichen Spree soll spürbar werden. Und natürlich blieben genau wie die großen auch die kleinen Fragen offen wie zum Beispiel die nach der Verlegung des Neptunbrunnens zurück an seinen historisch angestammten Platz vor dem Stadtschloss.

Wie geht es aber nun weiter? Noch ist unklar, ob nun ein Freiflächen- oder ein städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt wird. Wann? Auch darauf gibt es keine Antwort. Nur eines ist jetzt schon klar: Wenn 2019 die Besuchermassen ins neue Stadtschloss strömen, wird es immer noch keine Lösung geben.