Unter dem Titel „Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie“ zeigt die Karlsruher Kunsthalle Künstlerselbstporträts quer durch die Jahrhunderte. Nicht immer stand dabei das „Erkenne dich selbst“ im Vordergrund.

Karlsruhe - Hell leuchtet das Blitzlicht der Handykamera auf, die Ai Weiwei in einer spiegelnden Aufzugkabine über den Kopf hält, während er ein Foto von sich selbst schießt. Mit ihm im Lift: zwei Polizisten und der Musiker Zuoxiao Zuzhou. Die Aufnahme, 2009 kurz nach der Verhaftung des chinesischen Künstlers in einem Hotel in Chengdu entstanden, wurde umgehend per Twitter der internationalen Netzgemeinde zur Kenntnis gebracht und hat so dem Künstler vielleicht das Leben gerettet. Als scheinbar achtlos mit Stecknadeln an die Wand gepinnter Abzug bildet sie nun den Abschluss der Ausstellung „Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie“ in der Karlsruher Kunsthalle.

 

Ich bin hier! – das schreit auch jedes der Abermilliarden von Selbstporträts in die Welt hinaus, die vor dem Großglockner, hinter Kleinmachnow, an der Seite einer B- oder C-Zelebrität oder, unter Lebensgefahr, auf Starkstrommasten geknipst und dann gepostet werden. Aber führt denn wirklich eine gerade Linie von Rembrandt zum Selfie? Anders gefragt: sind Rembrandts Selbstporträts und die seiner vor- und nachgeborenen Künstlerkollegen im Grunde nichts anderes als etwas mühevoller im analogen Medium der Malerei zustandegekommene Vorformen der Selfies? Würde Rembrandt, lebte er heute noch, auch lieber zum Smartphone als zum Pinsel greifen, wie es die im Katalog abgebildete Karikatur des Meisters behauptet? Selbstporträt – Momentchen, das haben wir gleich!

Das wäre denn doch eine reichlich unterkomplexe Sicht der Dinge und ein Missverständnis des – zu Missverständnissen allerdings einladenden – Titels der Schau. Es geht um den auf sich selbst gerichteten Blick des Künstlers, sein Selbstverständnis, seine Selbstbefragung, seine Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, wie sie sich in Selbstbildnissen seit der Renaissance manifestiert. Und so ist auch Ai Weiweis Selfie kein beliebiges Knipsebild, sondern Systemkritik und ikonografische Komposition in einem: Der Künstler im zerrissenen roten T-Shirt erscheint unter der Gloriole des Blitzlichts als Schmerzensmann, wie auch auf den beiden folgenden Selfies, die Ai Weiwei im Münchner Klinikum Großhadern zeigen, wo er wegen einer in der Haft zugefügten Hirnblutung behandelt wurde.

Zahlreiche neue Bekanntschaften

Die Kuratoren Pia Müller-Tamm, Dorit Schäfer und Alexander Eiling haben den Ausstellungsparcours nicht chronologisch geordnet, sondern die Werke epochenübergreifend teils thematisch, teils formal oder assoziativ in Beziehung gesetzt. Die sich daraus ergebenden Analogien und Gegensätze sind zuweilen aufschlussreich, häufig überraschend, oft auch amüsant – was nicht zuletzt daran liegt, dass sich die Karlsruher Kunsthalle für diese Schau (und in dauerhafter Partnerschaft) mit dem Musée des Beaux-Arts in Lyon und den National Galleries of Scotland in Edinburgh zusammengetan hat. Über die Glanzstücke der Karlsruher Sammlung hinaus – Rembrandts wunderbares „Selbstbildnis“ von 1645/48 etwa bis zu Hans Thomas „Selbstbildnis mit Amor und Tod“ (1875) und Ernst Ludwig Kirchners Selbstbildnis von 1919/20 – kann man darum in „Ich bin hier!“ zahlreiche neue Bekanntschaften machen.

Louis Janmot zum Beispiel malt sich auf seinem virtuosen Selbstbildnis von 1832 mit Pinsel, Palette und Röntgenblick, der so durchdringend ist, dass es der zur Entstehungszeit des Gemäldes erst achtzehn Jahre alte Franzose damit gleich aufs Ausstellungsplakat geschafft hat. Jean Carriès stellt sich in seiner Porträtbüste „Der Krieger“ (1881) als Ritter von der traurigen Gestalt dar. Léonard Tsuguharu Foujita blickt den Betrachter auf seinem großartigen Porträt mit Katze (1926) als Zwitterwesen zwischen Ost und West nachdenklich durch Brillengläser an. Helen Chadwicks „Selbstporträt“ von 1991 ist die Fotografie eines menschlichen Gehirns, das die Künstlerin in ihren beringten Händen hält, und John Bellanys „Selbstporträts mit Sauerstoffmaske“ (1988) sind mit den Plastikschläuchen voll blutigem Sekret und dem zusammengeflickten Körper des Künstlers ein aquarelliertes Pendant zu Ai Weiweis Münchner Krankenhaus-Selfies. Politische Anklage erhebt der Schotte im Unterschied zu dem Chinesen jedoch nicht – am eigenen Leib reflektiert er die Fragilität des menschlichen Daseins. Dafür hat Friedrich Mosbrugger auf seiner Bleistiftzeichnung von 1872 nur Zahnweh.

Gleicher Blick, gleiche Kinnpartie

Als vorrangiges Medium des „Erkenne dich selbst“ dient das Selbstbildnis den Künstlern quer durch die Zeitalter jedenfalls nicht. Mit dieser Annahme räumt die Schau unmissverständlich auf. Dem Künstler-Ego bietet das Autoporträt vielmehr die Möglichkeit, sich vorteilhaft zu verkaufen oder gar seinem „übersteigerten Narzissmus“ zu frönen, wie Pierre Vaisse im Katalog schreibt. Anselm Feuerbach, offenbar schon als Kind ein unerträglicher Ausbund an Eitelkeit, inszeniert sich auf seinem Karlsruher Selbstbildnis von 1851/52 mit trotzig gesenktem Kinn als genialischen young man. Der gleiche Blick, die gleiche kantige Kinnpartie bei Robert Mapplethorpe auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme von 1982. Aber wenn man seine anderen Selbstporträts aus jenen Jahren betrachtet, zumal das (nur im Katalog abgebildete) Foto, auf dem Mapplethorpe sich mit Pelz und künstlichen Wimpern als Transvestit abgelichtet hat, wird klar, dass es ihm um Geschlechterklischees geht, um Rollenspiele, nicht um Authentizität.

Am wenigsten ernst, nehmen sich – wen wundert’s? – die Engländer. Alexander Runciman porträtiert sich mit einer Art Kaffeewärmer auf dem Kopf, während er sichtlich missvergnügt der Kritik eines Kollegen an seinem gerade entstehenden Gemälde lauscht. Und William Strang hat sich auf seinem Selbstporträt von 1905 einen roten Fes aufgesetzt – was den Rembrandt-Bewunderer mit seinem Idol verbindet, das sich ebenfalls in wechselnden Verkleidungen dazustellen liebte. Der Katalog zitiert dazu noch ein Rembrandt-Cartoon: Der Maler wendet sich von der Staffelei zu seiner Frau um und sagt „Hendrickje, ich spür, dass wieder ein Selbstporträt kommt. Bring mal schnell die lustigen Hüte.“ Ich ist ein anderer.

Ganz zum Schluss kommen die Selfie-Knipser dann doch noch auf ihre Kosten. Von einem Fotoautomaten des ZKM werden die Besucher aufgenommen. Aber kaum ist das Bild gemacht, verschwindet es schon in der Masse der anderen Fotos, die zur Unkenntlichkeit vervielfacht und verkleinert wie Pixel eine großformatige Leinwand überziehen. Was heißt hier Ich?