Illegale Einwanderung in den USA Am Zaun – Amerikas Flüchtlingskrise

Migranten an der US-Grenze mit Mexiko in El Paso überstellen sich freiwillig den US-Grenzschützern, um Asyl zu beantragen. Foto: AFP/Patrick T. Fallon

Die Zahl der illegalen Einreisen in die USA liegt auf Rekordniveau. Die Grenzstadt El Paso ächzt unter dem Ansturm. Doch Demokraten und Republikaner in Washington blockieren sich bei der überfälligen Einwanderungsreform.

Familien spazieren mit ihren Kindern an der Hand über die San Jacinto Plaza in El Paso. Der zentrale Platz mit den steinernen Krokodilen im Brunnen in der Innenstadt der texanischen Stadt an der Grenze mit Mexiko ist in diesen Tagen festlich geschmückt: Ein großer Weihnachtsbaum glitzert in bunten Farben, überall funkeln Tausende kleiner Lichter, und Passanten schießen Fotos ihrer Lieben vor der lebensgroßen Krippe mit Christuskind und den Heiligen drei Königen.

 

Doch nur ein paar Straßenblocks weiter Richtung Grenze lehnt ein hagerer Mann mit seinem kleinen schwarzem Rucksack an der Backsteinwand eines Busbahnhofs. Auf dem großen Fenster der Wartehalle stehen die fernen Orte in den ganzen USA, die die Busse nach oft tagelanger Fahrt ansteuern: Atlanta, Detroit oder Milwaukee. Julio Cesar – es ist unklar, ob er wirklich so heißt – ist ein illegaler Einwanderer aus dem zerfallenden Krisenstaat Venezuela. Cesar ist gerade erst in El Paso angekommen. Er hat sich der US-Grenzpolizei freiwillig überstellt, ist sozusagen ein legaler Illegaler und wartet auf den Ausgang seines Asylverfahrens.

„Aus Venezuela bin ich zusammen mit meiner Mutter schon 2016 ins benachbarte Kolumbien weg“, erzählt der 33-jährige gelernte Koch auf Spanisch. Die katastrophale wirtschaftliche Lage habe beide fortgetrieben. Jetzt hofft er nach monatelanger gefährlicher Odyssee durch ganz Mittelamerika – in Mexiko wurde er ausgeraubt – auf einen Neuanfang in den USA. Hier möchte er eine Familie gründen. „Ich will nach Chicago“, sagt er. Dort soll es mehr Jobs geben als an der armen US-Grenze, habe er gehört. Doch für die lange Reise fehlt ihm das Geld. Er sucht Arbeit, wenn es sein muss auch illegal. Sein Traum: „Ich brauche nicht viel. Aber meiner Mutter würde ich gerne ein Geschenk nach Kolumbien schicken“, sagt er.

Wie ein Förderband

Julio Cesars Geschichte ist ziemlich typisch für El Paso. Und die Probleme der Stadt bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise finden sich so oder so ähnlich in vielen großen und kleinen Städten an der mehr als 3000 Kilometer langen Grenze von Texas bis Kalifornien. „Wir funktionieren hier mehr wie ein Förderband“, berichtet Jorge Rodriguez, der Notfallmanager der Stadt, mit Blick auf die Tatsache, dass die meisten Migranten nur kurze Zeit an der Grenze bleiben wollen. Er empfängt in einem hochmodernen Kommunikationszentrum.

Seit vergangenem Dezember sind in El Paso rund 200 000 Migranten angekommen. „Das ist sehr herausfordernd“, betont Rodriguez, auch wenn die Stadt dafür viele Millionen Dollar an Bundeshilfen erhält. „Wir wissen nie genau, wie hoch die Zahl noch steigen wird“. Seine Stadt, in der rund 80 Prozent Latinos leben, darunter ein Viertel Einwanderer, sei definitiv „das Epizentrum“ des Flüchtlingsansturms in den USA.

Ohne die Hilfe privater Hilfsorganisationen, der Kirchen und normaler Bürger wäre der gar nicht zu bewältigen. Die Helfer betreiben mehr als 20 Unterkünfte in der Stadt, die den Menschen für ein paar Tage ein Dach über dem Kopf bieten und sie verpflegen. Geld erhalten die Migranten keines. Die Stadt arrangiert die Weiterreise per Bus oder Flugzeug in Städte wie Denver oder New York City. Die Stadt springt mit Notunterkünften nur ein, wenn die privaten voll sind. Die US-Grenzpolizei behält die Menschen in der Regel nur kurz, um die Identität festzustellen und zu entscheiden, ob ein „vernünftiger Fall“ für ein Asylverfahren vorliegt oder ob sie abgeschoben werden. Straftäter werden eingesperrt.

„Unser Einwanderungssystem ist kaputt“

„Das Ganze ist eine gemeinsame Anstrengung von Regierung und Privatinitiativen“, berichtet Ruben Garcia. Der 75-jährige kräftige weißhaarige Mann mit dem gütigen Lächeln ist so etwas wie der „Mister Flüchtling“ in El Paso, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Seit 47 Jahren schon engagiert er sich unermüdlich in der Flüchtlingsarbeit. Er leitet das gemeinnützige Annunciation House, das gemeinsam mit der katholischen Kirche Migranten Unterkunft bietet. Er wünscht sich nichts mehr, als dass sich auch andere Teile der USA mehr um Unterbringung und Versorgung der Migranten kümmern. „Man kann doch nicht von uns in den Grenzstädten erwarten, dass wir diese Aufgabe alleine schultern“, bekräftigt Garcia.

„Unser Asylsystem ist kaputt. Unser Einwanderungssystem als Ganzes ist kaputt“, hatte US-Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas vor einem Jahr bei einem Besuch in El Paso beklagt. Damals waren pro Tag mehr als 2000 Migranten in der Stadt eingetroffen – 50 000 allein im Dezember 2022. Viele Migranten mussten trotz Kälte im Freien übernachten. Zuletzt sind es einige Hundert gewesen – jeden Tag. Tendenz wieder steigend. Im Haushaltsjahr 2023 griff die Grenzpolizei die Rekordzahl von 2,4 Millionen Migranten an der US-Südgrenze auf.

Reform seit Jahren blockiert

Statistiken wie diese bilden den dramatischen Hintergrund für die seit Jahren polarisierte Politschlacht um eine Einwanderungsreform im Kongress. Das Thema ist für den US-Präsidenten Joe Biden politisch brisant – nicht nur im Kampf um seine Wiederwahl. Wenn die Republikaner weiteren Militärhilfen an die Ukraine zustimmen, will er ihnen bei der Verschärfung der Migrationspolitik entgegenkommen. Aber werden die US-Konservativen bei ihrem Wahlkampfthema einlenken? Einige Republikaner würden am liebsten die UN-Flüchtlingskonvention abschaffen, die die Unterzeichner dazu verpflichtet, Menschen mit glaubhaftem Verfolgungsrisiko aufzunehmen. Vielen linken Demokraten dagegen geht die gängige völkerrechtliche Festlegung nicht weit genug, weil sie Gewaltverbrechen oder extreme Armut als Fluchtgrund bisher nicht vorsieht.

Dabei verweisen Experten wie Josiah Heyman von der University of Texas in El Paso seit Jahren auf Bausteine einer vernünftigen Lösung: Die USA bräuchten ein finanziell und personell erheblich besser ausgestattetes Asylsystem, meint der Anthropologie-Professor. Bis zur Entscheidung eines Asylfalles könnten oft Jahre vergehen. Zudem fordert Heyman mehr Möglichkeiten zur legalen Arbeitsmigration in die USA, inklusive Saisonarbeit. Das allein schon würde die illegale Migration reduzieren, da ist er sich sicher. Denn diese sei, wenn Schleuser der Drogenkartelle zu bezahlen sind, oft viele Tausend Dollar teuer und obendrein gefährlich. Viele Migrantinnen und Migranten berichten von Vergewaltigung und Raub auf ihrer langen Reise durch Mittelamerika. Aber: „Niemand ist politisch bereit, zuzugeben, dass unsere Wirtschaft deutlich mehr Arbeitsmigration braucht“, so Heyman.

Immer noch migrantenfreundlich

Derweil bleibt El Paso auch trotz des Ansturms von Menschen vor allem aus Süd- und Mittelamerika überwiegend migrantenfreundlich. Anders als das republikanisch regierte Texas, das gerade ein drakonisches Migrationsgesetz verabschiedet hat, ist die Stadt eine Bastion der Demokraten. Wichtiger aber scheinen El Pasos prägende enge Verbindungen mit der Schwesterstadt Ciudad Juárez auf der mexikanischen Seite des Rio Grande. „El Paso ist eine dynamische binationale Gemeinschaft, die die Vorstellung, dass die Grenze eine Gefahr darstellt, Lügen straft“, meint der linke Demokrat Beto O’Rourke. Die wachsenden Migrantenzahlen belegen in seinen Augen, dass der von den Republikanern forcierte Fokus auf die Grenzsicherung allein nicht ausreiche.

Nur ganz vereinzelt tauchen die in anderen Teilen der USA verbreiteten Skepsis und Sorgen auf. Ein mexikanischstämmiges Rentnerpaar im wohlhabenden Westteil der Stadt bangt um seine Sicherheit. Die beiden sind sich sicher, dass ihre Stadt und das Land die große Migrantenzahl nicht vertragen. „Wenn wir legal einwandern konnten, warum können die das nicht“, sagen sie.

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