StZ-Kolumnist Erik Raidt sucht die Exotik vor der Haustür: Er reist in den nächsten drei Wochen „In 80 Zeilen um Stuttgart“. In dieser Folge geht es um den Rohrer Seebären, und eine Ritterburg und Käpsele-City.

Stuttgart - In Stuttgart-Rohr lebt ein Seebär, ich kenne ihn schon seit meiner Kindheit, weil ich in Rohr aufgewachsen bin. Der Bär war aus Sandstein, und er bewachte den Rohrer See, doch als ich ihn nun bei meiner Stadtwanderung wiedersehe, hat er sich verwandelt. Das Tier ist aus Bronze, er hockt am alten Platz am Seeufer und ich habe mir erzählen lassen, dass der neue Bär, der mir schlanker zu sein scheint, heute an diesem Platz sitzt, weil Vandalen seinem Vorgänger die Ohren abschlugen. Noch bevor sich dieses Drama ereignete, bewegte die Rohrer ein ganz anderer Skandal: Die alte Straßenbahn, die einst in einer Kurve beim Rohrer See unter Quietschen und Ächzen in ihre Endstation einbog, wurde durch die S-Bahn ersetzt.

 

Ich erinnere mich düster an das Gebruddel in Rohr angesichts dieses frühen Bahnskandals. Heute spricht kein Mensch mehr davon. Im Park, in dem der Rohrer See liegt, gibt es oberhalb des Bärensees einen zweiten, noch kleineren See. Inmitten des Sees liegt eine winzige Insel. Früher dachte ich immer, dass dort einst eine Ritterburg gestanden hat. Lustig, was man sich als Kind so ausdenkt, weil bei klarem Verstand ist das absolut lächerlich. Es müssten schon Bonsai-Ritter gewesen sein, die auf so einer Insel eine Burg hätten bauen wollen.

An keinem Ort der Stadt ballt sich so viel Wissen

In der Nähe des Ufers ragt ein Holzpfahl aus der Wiese. Die Inschrift ist leicht verwittert, aber immer noch lesbar: „Die Burg der Ritter von Rohr wurde um 1250 auf der Insel gebaut und 1312 im Reichskrieg gegen Württemberg zerstört.“ Der Holzpfahl war ein Teil der alten Zugbrücke. Also doch! Mit Gedanken an die echten Rohrer Ritter setze ich meinen alten Schulweg fort, vorbei am Hegel-Gymnasium, über dem urlaubsbedingt derzeit keine Helikoptereltern kreisen. Von dort aus biege auf die Deutsche Floristikstraße ein, die noch kein Marketingprofi so benannt hat: Alpenrosenstraße, Blümleweg, Holderbuschweg – wo die Vaihinger Floristikstraße endet, beginnt Käpsele-City.

An keinem Ort der Stadt ballt sich so viel Wissen wie auf dem Campus. Hier sitzen die Luft- und Raumfahrttechniker, die schon Astronauten ins All geschickt haben, hier entstehen Roboter, die uns heute selbstständig das Wohnzimmer putzen und uns morgen womöglich durch die Stadt fahren, während wir selbst entspannt die Zeitung lesen. Hoffentlich steht mein Roboter dann nie im Stau. Eigentlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Forschung ans Ziel kommt: Es sind Semesterferien, aber in der Uni-Bibliothek ist kaum ein Tisch frei, und auch in der Cafeteria sitzen Studentinnen mit und ohne Kopftuch. Chinesische und schwäbische Wortfetzen schwirren durch den Raum.

Die Cafeteria war schon immer die verlängerte Werkbank der Bibliothek. Adrian, 21, und Hannes, 26, sitzen vor aufgeklappten Laptops und Papierstapeln voller mathematischer Formeln. „Semesterferien?“ Hannes lächelt gequält, und dann erzählen die beiden von ihren Prüfungen im August und im September, davon, dass sie um acht aufstehen (Adrian) und abends nach getaner Geistesarbeit zur Entspannung „mit den Kumpels kicken gehen“ (Hannes).

Ich hätte die beiden Maschinenbauer in den Wald schicken sollen. Der liegt nur fünf Gehminuten von der Cafeteria entfernt. Waldluft macht den Kopf frei.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!