Die vierte Etappe der Stadt-Expedition beginnt mit einem steilen Anstieg. StZ-Kolumnist Erik Raidt wandert von Botnang nach Weilimdorf und trifft einen Zwölfender am Steuer eines Autos und einen Hornochse im Wald.

Stuttgart - Die Stadt kann mir den Buckel runterrutschen. Frühmorgens in Botnang beginnt die vierte Etappe mit einem steilen Anstieg, ausgerechnet auf jenem Sträßchen, das von den Botnanger Ureinwohnern liebevoll auf den Namen „Millionärsbuckel“ getauft wurde. Wie bestellt, röhrt mir ein weißer Porsche entgegen, an dessen Steuer ein ausgewachsener Zwölfender sitzt. Am Himmel glüht die Sonne vor, eine Katze hat sich am Straßenrand ein Schattenplätzchen gesichert.

 

Ein kluges Tier. Nur Hornochsen kriechen im Sommer freiwillig den Millionärsbuckel hinauf, um dann im Botnanger Wald auf den Schaftriebweg einzubiegen. Wenn ich auf meiner Wanderung ein Smartphone dabei hätte, könnte ich auf meinem Weg nach Weilimdorf Schritte und Höhenmeter zählen, um mir anschließend meinen Kalorienverbrauch anzeigen zu lassen. Aber als menschlicher Datenstaubsauger hätte ich womöglich das Reh verpasst, das mir im Lindentalsträßchen über den Weg springt.

Es geht auch eine Nummer kleiner. Auf dem Friedhof in Weilimdorf huschen Eichhörnchen zwischen den Grabsteinen umher. Über die Stuttgarter Friedhöfe lassen sich Bücher schreiben, an einem anderen Tag will ich mir eine letzte Ruhestätte näher anschauen. Aber heute geht es weiter zu den Lebenden. Weilimdorfs Mitte nennt sich Löwen-Markt, obwohl der Platz rund um die Stadtbahn-Haltestelle keineswegs an den Ausgangsort einer Safari erinnert. Es gibt eine Bank, Handy-Läden, Optiker und Apotheken, ein Schmuckgeschäft und das Thailändische Honorarkonsulat.

„Da ist sie wieder die gelbe Sau“

Der Löwen-Markt beweist, dass heute niemand mehr in die Welt hinaus reisen muss wie bei Jules Verne. Die Welt ist mitten unter uns. Im Restaurant Lotusblüte fegt eine Dame die Terrasse, im Kebaphaus dreht sich der Spieß. Und beim Eiscafé „Al bacio“? Küsschen links, Küsschen rechts. Auch Uta Zipke ist eine zugewanderte Stuttgarterin. Frau Zipke betreibt ihr Schuhmachergeschäft in einer Nebenstraße des Löwenmarkts. Ein paar Stufen führen zu ihrem Lädchen hinab, Uta Zipke steht an der Schleifmaschine und bearbeitet einen Absatz. Die Maschine verstummt, die Schuhmacherin erzählt von ihrem Leben. Wie sie damals in Halle an der Saale aufwuchs, ihrem Vater 1988 die Republikflucht aus der DDR gelang und die Familie kurz vor dem Mauerfall nachkommen durfte. Stuttgart war für alle ein Neuanfang. Der Vater übernahm in Weilimdorf den Schuhmacherbetrieb, kurz nach der Jahrtausendwende machte seine Tochter weiter. „Er wollte das gar nicht“, erzählt Uta Zipke, „aber ich wollte es“. Seitdem hilft sie Weilimdorf wieder auf die Beine. Sie repariert Absätze und Sohlen, richtet das Futter der Schuhe und näht Rucksäcke. Natürlich könnte die Schuhmacherin, die im Laden ihren Meisterbrief aufgehängt hat, in das Klagelied über die Abwanderung der Kunden in die Innenstadt einstimmen, aber die Weilimdorfer Löwin sagt nur: „Mir macht mein Beruf Spaß, und ich muss nicht 100 000 Euro im Jahr verdienen.“

Weiter geht’s, vorbei an Beverly Hills, dem Weilimdorfer Nagelstudio. Die Sonne brennt jetzt doch beträchtlich und mir fällt eine Kollegin ein, die während einer ähnlichen Hitzeperiode die Augen zusammenkniff, zum Himmel sah und einen Fluch ausstieß: „Da ist sie wieder, die gelbe Sau.“

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!