Bürger demonstrieren gegen zwei ehemalige Sexualstraftäter, die in das Dorf gezogen sind. Die Menschen fürchten um ihre Sicherheit.  

Insel - Hannelore Röhlicke bläst ihre ganze Wut in die schwarz-rot-goldene Vuvuzela. Nach hinten gelehnt richtet die kleine Rentnerin ihre Tröte auf ein Fenster im ersten Stock, wo hinter Gardinen Licht brennt, sie atmet tief ein und schickt mit hochrotem Kopf die nächste Fanfare ab.

 

Röhlicke hat sich Taschentuchfetzen in die Ohren gesteckt. Auf einem Schild, das ihr um den Hals hängt, steht "Haltet euer Versprechen! Verlasst Insel". Es ist, als blase die weißhaarige 68-Jährige zur Jagd, zur Jagd auf die neuen Nachbarn. Erlegen wollen Röhlicke und ihre hundert Mitstreiter sie nicht, sie wollen sie - mit Lärm - vertreiben.

Bewaffnet mit Trommeln, Ratschen und Kochgeschirr sind sie vor das heruntergekommene Haus in der Ortsmitte gezogen und machen Krach. Oben im ersten Stock beobachten Richard A. und Thomas L. (Namen geändert) durch einen Spalt in den Gardinen, was vor ihrer Haustür geschieht.

Parolen und Transparente

Die Leute skandieren Parolen und halten Transparente hoch. Auf einem steht: Wir wollen keine Sexualstraftäter in unserem Dorf. "Die ersten vier Wochen war alles gut", sagt Thomas L., ein 64-jähriger Mann mit weißen Haaren. Sein Vollbart ist vom Zigarettenqualm vergilbt.

Mitte Juli sind die beiden ehemaligen Sicherungsverwahrten von Freiburg in das kleine Dörfchen Insel bei Stendal in Sachsen-Anhalt gezogen. 400 Menschen leben hier, der letzte Laden hat vor Jahren dicht gemacht, neben dem Ortseingangsschild stehen Kühe auf der Weide, es riecht nach frisch gepflügter Erde.

Richard A. und Thomas L. wollten hier einen Neuanfang wagen, nachdem die Polizei in Freiburg die Dauerüberwachung der beiden eingestellt, ein Psychologe ihnen Ungefährlichkeit attestiert und das Landgericht dem Umzug zustimmt hatte. Doch mit dem neuen Leben in Ruhe und Freiheit ist es schnell vorbei gewesen, gerade weil sie sich integrieren wollten.

Beide haben mehrfach Frauen vergewaltigt

"Richard sucht Arbeit als Holzmechaniker und ist deswegen zur Arbeitsagentur in Stendal gegangen", erzählt Thomas L., der eine schwarze Jogginghose und Turnschuhe trägt. Dort habe er wie jeder andere Angaben zu seiner Vergangenheit machen müssen, also auch über seine Zeit im Gefängnis.

"Wir vermuten, dass sich der Sachbearbeiter mit dem Namen und der Information auf die Suche gemacht hat, vielleicht hat er beim Innenministerium nachgefragt." Danach dauerte es nur wenige Tage, bis in Insel jeder die Vergangenheit von Richard A. und Thomas L. kannte.

Beide haben vor mehr als 25 Jahren unter Alkoholeinfluss mehrfach Frauen vergewaltigt. Nach ihrer Haftzeit wurde nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet. Vor einem Jahr kamen die beiden aus der JVA Freiburg frei, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg diese nachträgliche Sicherungsverwahrung für unrechtmäßig erklärt hatte.

In Freiburg wollte ihnen niemand eine Wohnung vermieten

Doch in Freiburg wollte niemand Richard A. und Thomas L. eine Wohnung vermieten. Deshalb wohnten sie zunächst im Freigängerheim der JVA. Bis ihnen der Freiburger Tierarzt Edgar von Cramm, der die Wellensittiche von Thomas L. schon während der Zeit in der JVA behandelt hatte, einen Umzug nach Insel vorschlug, in ein Haus, das er geerbt hat.

"Ich wollte etwas Gutes tun", betont von Cramm. Seitdem die Bürger von Insel allerdings von ihren neuen Mitbewohnern wissen, ist das Dorf in Aufruhr. Auch von Cramm wird attackiert. "Ich habe die Brisanz unterschätzt", gesteht er.

Bei einer Bürgerversammlung beteuerte er kürzlich, seine Mieter säßen auf gepackten Koffern, seien bereit, den Ort zu verlassen, sobald es eine andere Lösung gebe. Doch die ist nicht in Sicht. In einer paar Tagen will von Cramm wieder nach Insel fahren, um die verunsicherten Bürger zu beschwichtigen.

Regelmäßige Proteste vor dem Haus

"Ich traue mich nicht mehr, mit dem Fahrrad über die Dörfer zu fahren", sagt Hannelore Röhlicke. Auch die Kinder könnten sie nicht mehr allein auf den Spielplatz lassen. Deshalb habe sie sich den Demonstrationen angeschlossen, die montags, mittwochs und freitags am Abend vor dem Haus der beiden Männer stattfinden.

Eine Stunde Krach, dann ziehen die Demonstranten wieder ab. "Wir kommen so lange hierher, bis die beiden weggehen", betont Röhlicke. An den Protesttagen belagern schon am frühen Nachmittag Kamerateams die Hauseinfahrt.

Einmal mischten sich sogar vermummte Neonazis unter die Demonstranten. Auch deshalb stehen nun bei jeder Demonstration sechs Polizisten vor dem Haus - zum Schutz der Bewohner.

Rechtsanwalt erhebt Anklage

"Der Lärm ist unerträglich", sagt Thomas L., "dagegen war sogar die Dauerüberwachung in Freiburg Gold wert". Doch wegziehen wolle er nicht. "Wie auch? Wir haben gar kein Geld dafür." 3000 Euro habe er durch seine Arbeit als Installateur im Knast gespart, das Geld sei durch den Umzug aufgebraucht.

Außerdem gebe es auch Menschen in Insel, die ihnen wohlgesinnt seien, die mit ihnen sprächen. Der Rechtsanwalt der beiden, Ekkehard Kiesswetter, hat mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft Stendal Anzeige gegen die Demonstranten erstattet:

"Freien Menschen das Recht auf die freie Wahl ihres Wohnorts ohrenbetäubend abzusprechen, erfüllt nach meiner Auffassung den Tatbestand der Nötigung und Körperverletzung."

Der Bürgermeister ist sauer

Anführer der Demonstrationen ist der Ortsbürgermeister von Insel, Alexander von Bismarck, ein Mann mit lichtem, grauem Haar und schwarzer Steppjacke. Er hat keine Demo versäumt. "Wenn man es ehrlich gemeint hätte, dann hätte man die Bürger vorher informiert, statt ihnen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zwei Flöhe in den Pelz zu setzen", ereifert er sich.

"Die Sicherheit der Menschen ist wichtiger als das Wohl von Sexualstraftätern." Man werde keine Ruhe geben. Bis auf zwei, drei Nachbarn dächten alle Menschen im Dorf so, versichert von Bismarck. Ein Bürger aus dem Nachbarlandkreis Jerichower Land hatte den Bürgermeister allerdings kürzlich wegen Volksverhetzung angezeigt.

Die Staatsanwaltschaft Stendal wies die Anzeige jedoch vergangene Woche ab.

"Meine Tochter ist hier im Dorf vergewaltigt worden"

Auf der gegenüberliegende Straßenseite ist Katrin Klarowitz vor die Tür ihres Hauses getreten, um eine Zigarette zu rauchen. Mit abschätziger Miene schaut die dunkelhaarige Frau, Mitte 40, hinüber zu den Demonstranten. "Meine Tochter ist mit elf Jahren hier im Dorf vergewaltigt worden", erzählt sie.

Als sie den Täter anzeigte, hätten ihr Leute im Dorf vorgeworfen, sie versaue das Leben des jungen Mannes. "Einige von diesen Leuten stehen heute da drüben und demonstrieren gegen Sexualstraftäter, die für ihre Taten 25 Jahre gebüßt haben."

Sie habe ein gutes Verhältnis zu Richard A. und Thomas L., versichert Klarowitz, mittlerweile duze man sich sogar, trinke ab und zu gemeinsam einen Kaffee. Sie plant mit ein paar anderen für demnächst die erste Gegendemonstration. "In Insel gibt es auch viele, die Richard und Thomas eine Chance geben wollen", sagt sie. "Das sind freie Menschen, keine Tiere."