Mehr als drei Jahrzehnte lang hat Rose Steinbuch die Nürtinger Friedensbewegung geprägt. Anlässlich der jetzt stattfindenden Friedenswochen blickt sie zurück und wagt einen Ausblick. Dieser ist nicht rosig. Die 94-Jährige fordert ein Umdenken in der Politik.

Nürtingen - Rose Steinbuch erlebt den Zweiten Weltkrieg, flüchtet im Jahr 1954 aus dem DDR-Unrechtsstaat. In den 1980er Jahren schließt sie sich dann in Nürtingen der dortigen Friedensbewegung an und wird deren Motor. Die aktuellen bewaffneten Konflikte in der Welt lösen Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit bei ihr aus. Das Plädoyer der 94-Jährigen für mehr Vernunft und Menschlichkeit richtet sich nicht nur an Politiker sondern an jeden einzelnen von uns.
Frau Steinbuch, in vielen Ländern wird geschossen. Wenn Sie Berichte und Fernsehbilder aus der Ukraine, aus Syrien oder dem Irak sehen: Was empfinden Sie da?
Das reicht von Wut, Entsetzen bis hin zu Hilflosigkeit. Ich weiß überhaupt gar nicht, was man noch machen kann, um die Leute zur Vernunft zu bringen. Es ist ein ganz großes Entsetzen für alle, die normal denken. Wie können Menschen so unsinnig reagieren? Und anderen schaden und sie töten wollen, die ganze Gegend kaputt machen? Für mich ist es eine einzige Katastrophe.
Was müsste geschehen, damit das Morden aufhört?
Man muss jetzt sorgsam überlegen, wie man die Konfliktparteien zum Einhalten bringt. Die Unvernünftigen müssen zur Einsicht gebracht werden. In dieser verfahrenen Situation ist das eine Herkulesaufgabe. Auch wenn es schier aussichtslos erscheint, muss man es dennoch versuchen. Denn so kann es auf der Welt doch nicht mehr weitergehen.
Warum gibt es immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen. Warum gibt es keine weltweite Friedenspfeife?
Die Politik muss sich ändern. Man muss sich vor Augen halten, welche Auswirkungen das Handeln eines Landes auf ein anderes hat. Gewalt, Aggression oder Bedrohung von der einen Seite wird auf der anderen Seite nicht vergessen. Vor fünf Jahren wollten die USA einen Raketenschutzschild für Tschechien und Polen. Die Pläne wurden schließlich fallengelassen. Ungeachtet dessen war aber doch klar, dass diese Haltung des Westens irgendwann zurückschlagen musste. Da ist auf beiden Seiten schon so viel verkehrt gemacht worden. Was mir bei allen Konflikten auffällt: Es fehlt immer das Gespräch. Oft ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Was kann der einzelne tun?
Selber können wir bloß immer versuchen, Menschen anzusprechen. Und wenn wir meinen, die Politik ist verkehrt, dann müssen wir uns eben an unsere Politiker wenden. Wir können ja nur bei uns etwas verändern, und nicht bei den anderen. Aber Veränderungen bei uns können zu einem Umdenken auf der anderen Seite führen.
Im Rückblick: wie fing es mit der Friedensbewegung in Nürtingen an?
Die Friedensbewegung hier war sehr aktiv. Ich selbst war aber nicht von der ersten Stunde an dabei. Es war etwa 1982, da gab es Schweigekreise. Wenn ich vom Geschäft kam, habe ich mich dazu gestellt. Ich erinnere mich noch an einen Friedensstand von jungen Leuten aus Neckarhausen. Da bin ich hin und habe gefragt, ob sie auch noch jemand Älteren brauchen können. Die haben sich halb kaputtgelacht. Von da an war ich dabei. Angefangen hat die Friedensbewegung in Nürtingen mit ein paar jungen Männern, wie Uli Jäger, der heute das Institut für Friedenspädagogik in Tübingen leitet. Richtig mitgemacht habe ich dann kurz bevor die Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm war, 1983. Bei Demos etwa in Mutlangen oder bei den Ostermärschen beeindruckte mich das starke Engagement so vieler Menschen. Das kunterbunte Bild, das die Erwachsenen, ja ganze Familien mit Kindern, Babys und Tieren zeichneten, hinterließ bei mir, in meiner Jugend geprägt vom BDM und dessen starker Ordnung, tiefen Eindruck. Aus diesen Anfängen heraus habe ich mich von da an immer intensiver mit dem Thema Frieden auseinandergesetzt.
Gab es Erfolge?
Die Nürtinger waren toll. Zum Beispiel als wir 1986 den geplanten Atombunker beim Aldi-Neubau in der Mühlstraße verhindert haben. Da gab es eine große Kampagne, mit der wir große Teil der Bevölkerung erreicht haben. Der Bunker hätte Platz für 1000 Menschen geboten. Was aber ist mit den anderen 40 000 Nürtingern? Das war eines unserer Argumente. Schließlich wurde das Projekt per Bürgerentscheid gestoppt.
Was treibt Sie bei Ihrem stetigen Einsatz für den Frieden an?
Ich bin vom Krieg geschädigt. Wir haben in Stuttgart gelebt und mein Mann meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst. Ich hatte das Gefühl, er lässt mich im Stich. Als ich das zweite Kind erwartete, bin ich zurück in meine alte Heimat nach Mühlberg in Brandenburg. Schwangeren wurde damals geraten, Stuttgart zu verlassen. Kurz vor Kriegsende habe ich erlebt, wie Kinder und Jugendliche noch vor den Russen über die Elbe wollten, aber nur noch mit Schwierigkeiten über den Fluss kamen. Sie hatten nichts zu essen, nichts anzuziehen. Das ist so etwas Grausames gewesen. Der Krieg wurde immer schlimmer. Auch mein Mann ist noch kurz vor Kriegsende gefallen.
Nach dem NS-Regime haben Sie dann in der DDR unter einer Diktatur gelebt.
Nach dem Kriegsende bin ich noch neun Jahre in Mühlberg geblieben und habe dort unangenehme Bekanntschaft mit der Stasi gemacht. Ich bin verhört worden und habe eine Spitzelverpflichtung unterschrieben. Um andere Menschen aber nicht verraten zu müssen, blieb nur die Flucht aus der DDR. 1954 landeten meine Töchter und ich auf dem Weg über Berlin wieder im Schwabenland.
Als in der Friedensbewegung Aktive haben Sie nicht nur Beifall bekommen.
Wir sind schon angefeindet worden, sahen uns mit üblen Sprüchen konfrontiert wie: „Geht doch nach drüben“ oder „Ihr seid doch sowieso von den Russen gelenkt“, „Lieber tot als rot“ und anderer Unfug. Das haben wir hingenommen. Was ich nicht hingenommen habe war, dass wir von Leuten angegriffen worden sind, denen man es nicht zugetraut hätte. Das hat mich sehr bedrückt. Es gab Beschimpfungen am Telefon, meistens anonym.
Sie waren selbst Flüchtling. Wie erleben Sie die aktuelle Flüchtlingsdebatte im Land?
Es ist ganz furchtbar. Ich weiß, was es heißt Flüchtling zu sein. Und dass Leute aus ihrem eigenen Staat flüchten müssen, ist eine Katastrophe. Ein Staat ist doch nicht dazu da, um seine Menschen zu vergraulen, sondern um sie zu behüten. Wir haben hier eine sehr aktive Asylgruppe, die auch bei den Friedenswochen mitmacht. Die Flüchtlingswellen sind letztlich Nachwirkungen von Fehlern, die von der Politik nach zwei Weltkriegen gemacht worden sind. Die Amerikaner und wir Europäer müssen uns vorhalten lassen, dass wir das mit zu verantworten haben. Die Flüchtlingsgeschichte wird immer schlimmer werden. Mich ärgern die Hornochsen, die sagen: Das Boot ist voll.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, wie würde er lauten?
Dass die Menschen vernünftig werden. Damit wäre die Menschheit gerettet und auch die Erde. Aufhören müssen nicht nur die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen. Aufhören muss auch die Ressourcenverschwendung und die Zerstörung der Umwelt. Aber ich habe manchmal die Hoffnung schon ein bisschen verloren. Ich würde glücklich sterben, wenn ich Hoffnung hätte. Jetzt bedauere ich manchmal, dass ich nicht noch jünger bin, um noch aktiver zu sein. Es könnte so schön sein auf der Erde, aber wir Menschen machen diesen Planeten systematisch kaputt. Am liebsten würde ich jeden Morgen auf dem Nürtinger Schillerplatz an einer Speaker Corner stehen und meinen Unmut darüber äußern. Es ist zum Verrücktwerden.