Der Studienreisende schaut despektierlich auf den Strandurlauber, der Backpacker grenzt sich vom Stadtbesucher ab und alle kritisieren den Tourismus an sich. Was dahintersteckt und warum wir in der Spirale der Verachtung stecken, erklärt der italienische Tourismus-Philosoph Marco d’Eramo.

Rom - Der Schriftsteller Marco d’Eramo analysiert in seinem aktuellen Buch „Die Welt im Selfie“ den Tourismus in all seinen Facetten. Ein Gespräch über das Zeitalter des Tourismus.

 

Herr d’Eramo, verstehen Sie sich als ein Reisender oder als Tourist?

Wer sich selbst als Reisender definiert, tut das, um sich vom Touristen abzugrenzen. Im Grund sind wir aber alle Touristen, die Touristen verachten.

Sie nennen das die Hierarchie der Verachtung. Was meinen Sie damit genau?

Es geht im Tourismus immer auch um eine Unterscheidung der sozialen Klassen. Wir reisen alle, aber in der Art und Weise, wie wir es tun, versuchen wir uns sozial abzugrenzen. Die Wahl des Terrains für diesen Wettstreit ist unterschiedlich. Der Tramper brüstet sich mit der Unwegsamkeit der von ihm erreichten Reiseziele, der Jumbojet-Reisende mit der Sternenzahl seiner Herbergen.

Woher kommt das?

Zu Beginn sind nur die Adeligen gereist. Sie machten die Grand Tour, sahen sich aber nicht als Touristen. Als dann das reiche Bürgertum die Grand Tour imitierte, sprach der Adel abfällig von diesen als Touristen. Schließlich erlebte das Großbürgertum, wie auch Richter, Anwälte und einfache Beamte verreisten, was diese ebenfalls nicht gutheißen konnten. Schließlich konnten sich auch die Arbeiter einen Urlaub leisten. Der vierwöchige bezahlte Urlaub wurde 1936 in Frankreich eingeführt. Die Verbreitung des bezahlten Urlaubs geht mit der Herausbildung des Tourismus Hand in Hand.

Die Einwohner fühlen sich von Touristen besetzt

Inzwischen leben wir im Zeitalter des Tourismus, so Ihre These.

Der Tourismus ist eine gigantische Industrie. Sie können aber nicht dem Arbeiter die Schuld geben für das, was in einer Industrie falsch läuft. Wie jede andere Industrie bringt der Tourismus Geld und Wohlstand, hat aber gleichzeitig auch unerwünschte Effekte wie die Zerstörung der Umwelt oder überfüllte Sehenswürdigkeiten.

Es gibt Touristenstädte, die mehr Besucher als Einwohner haben, z. B. Venedig. Welche Probleme bringt das?

Das Problem dieser Städte ist nicht der Tourismus, sondern dass es nichts darüber hinaus mehr gibt. Wenn andere Industrien verschwinden, wächst der Tourismus. Venedig ist dafür ein gutes Beispiel. Die Stadt war einmal eine der größten Handelsstädte der Welt. Als im 16. Jahrhundert ihre Bedeutung sank, entwickelte sich eine touristische Strategie. Die Venezianer begannen die Karnevalszeit zu verlängern. Wenn man sich die Gemälde der Maler im 17. Jahrhundert etwa von Canaletto anschaut, dann sehen diese aus wie touristische Poster. Venedig hat sich als Stadt inszeniert, wohin junge Adelige kommen, sich bilden und vergnügen. Oder Barcelona: Dort tat man früher alles, um Touristen anzuziehen. Nun protestieren die Einwohner gegen den Besucheransturm, denn die Fremden bleiben nicht mehr länger in den Touristenvierteln. Airbnb hat dazu beigetragen, dass der Barceloner seine Wohnung vermietet. Das führte dazu, dass die Touristen ihr Ghetto verließen. Von diesem Moment an fühlten sich die Einwohner von den Touristen besetzt.

Ist Airbnb eine Ursache des Overtourism?

Es trägt dazu bei. In Rom sind 18 Prozent der Gebäude im historischen Zentrum mit Ferienwohnungen oder Frühstückspensionen gefüllt. 1950 lebten im Zentrum Roms 370 000 Einwohner, heute sind es 80 000 Einwohner. Leute mit kleiner Rente oder Einkommen ziehen aufs Land und vermieten ihre Stadtwohnungen an Touristen. In meinem Haus in der Nähe des Kolosseums sind 17 von 40 Apartments Ferienwohnungen.

Was läuft im Tourismus falsch?

Die Kritik am Tourismus ist im Grunde Kritik am Kapitalismus. Doch statt diesen zu kritisieren, kritisieren wir lieber den Tourismus. Aber das, was im Tourismus falsch läuft, ist auch das, was im Kapitalismus falsch läuft.

Zu Hause bleiben ist keine Alternative

Nämlich?

Der Kapitalismus ist zu mächtig und die einzige Logik, in der wir leben. Unsere Gesellschaft ist vergleichbar mit einem Unternehmen. Alle Bereiche, ob Schule oder Krankenhaus, sind durchdrungen von den Regeln des Marktes. Der Tourismus profitiert dabei von der Vergangenheit. Ein großartiges Beispiel dafür findet man in Berlin am Checkpoint Charlie. Was wollen die viele Touristen dort? Die Mauer gibt es nicht mehr, dort steht nur eine Art Kiosk. Menschen bezahlen also, um dahin zu gehen, wo etwas fehlt.

Und um ein Selfie zu machen?

Aufnahmen von sich selbst werden seit Beginn der Fotografie gemacht. Es rührt mich, wenn Menschen Selfies machen. Wer das macht, fühlt sich seiner Existenz und seines Daseins unsicher. Das Selfie beweist meine Existenz.

Warum ist Reisen so beliebt?

Wir lernen von klein auf, dass Freiheit auch Bewegungsfreiheit ist. Das Problem ist: Wenn man seine Freiheit ausübt, zerstört man sie auch. Als Single habe ich die Freiheit, meinen Partner zu wählen. Aber wenn ich diese Freiheit nutze, bin ich nicht mehr frei. Das heißt, Freiheit ist immer nur eine potenzielle Option. Sobald ich von ihr Gebrauch mache, habe ich sie nicht mehr. Unsere Gesellschaft und unser Leben sind genauso reguliert wie unsere Freiheit.

Ist das Reisen ein Ausweg aus diesem regulierten Leben?

Wir leben in einer Welt des regulierten Konsums. Tourismus wurde sowohl durch die technische Revolution der Kommunikation und des Transports als auch durch die soziale Revolution möglich. 96 Prozent der Touristen können sich eine Reise leisten, weil sie entweder eine Arbeit haben oder in Rente sind. Aber ich verteidige auch die Touristen. Denn was könnte die Alternative sein?

Es gibt keine?

Doch, man könnte zu Hause bleiben und Kreuzworträtsel machen. Ich denke, wir werden künftig in einer Gesellschaft aus Nomaden leben. Die Jungen werden nicht mehr in Rente gehen können, denn sie haben keine geregelten Jobs mehr. Freie Zeit, und damit auch Urlaubszeit, ist aber an ein geregeltes Arbeitsleben mit Urlaubs- und Pensionsansprüchen gebunden. Dieses System verschwindet immer mehr auf der ganzen Welt.