Neben den dunklen, wie sehen die positiven, die rettenden Erinnerungen aus diesen entscheidenden Jahren für Sie aus?
Es gab damals eine ganz einfache, ganz wunderbare Frau, die etwa sechs Kilometer entfernt von Ludwigsburg lebte. Die hat uns Kinder immer wieder auf ihren Bauernhof mitgenommen, uns aus der Unterkunft rausgeholt. Das hört sich jetzt vielleicht etwas pathetisch an, aber das sind vielleicht die besten Erinnerungen aus meiner Kindheit. Beim Wiederaufsuchen der Flüchtlingsunterkunft neulich war meine Freundin mit dabei. Als wir anschließend rauskamen und sie sah, dass ich total durcheinandergewirbelt war, fragte sie: Was kann ich jetzt für dich tun? Und ich habe gesagt: Komm, wir fahren an den schönsten Ort der Welt. Und dann sind wir zu diesem Bauernhof gefahren.
Sie haben nach Ihrer Ankunft 1992 sehr schnell sehr gut Deutsch gelernt. Bei einem Gespräch im Stuttgarter Haus der Heimat erzählten Sie kürzlich, dass die Bücher von Astrid Lindgren dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielten . . .
Ja, ich kannte „Wir Kinder aus Bullerbü“ und „Pippi Langstrumpf“ auf Russisch fast auswendig. Und als ich sie dann in den ersten Sommerferien auf Deutsch aus der Bücherei ausgeliehen habe, hat mir das natürlich sehr geholfen!
Das Nachdenken über Sprache ist in Ihren Büchern immer wieder wichtig. Über Sanela, die als Kind aus dem Bosnienkrieg geflohene Hauptfigur Ihres neuen Romans „Null bis unendlich“ schreiben Sie zum Beispiel: „Den Klang der Wörter nahm sie mit dem ganzen Körper auf. Weiche Konsonanten, lange Vokale, Pausen, Stimmführung, die deutsche Sprache als Partitur.“
Ich glaube, dass Sprache meine Art zu leben ist, dass alles für mich funktioniert durch in Sätze gefasste Worte, die in eine schöne, verstörende, elegante, fragwürdige, gefühlsstarke Reihenfolge gebracht werden. Sprache ist für mich wie ein Klavier für einen Komponisten, wie Gips für einen Künstler. Ich forme sie, bis sie schön ist, oder manchmal bewusst nicht so schön, aber eben so, wie ich es im Moment brauche. Sie ist ein Material.
Das sie wie eine Kostbarkeit behandeln . . .
Ja, sie ist ein Geschenk, mit dem ich vorsichtig und mit Freude und Ehrfurcht spielen kann. Dessen bin ich mir in jedem Moment bewusst.
Nährt das Russische mit seinen Gefühlen und Bildern Ihr Deutsch?
Ganz gewiss. Ich habe sozusagen ein doppeltes Geschenk bekommen. Das Russische ist bildreicher, es hat keine Angst vor Emotionen. Ich kann mit dem Deutschen besser spielen, indem ich die Gefühle des Russischen mit hineinnehme oder mich davon bewusst abgrenze. Ich kann auch die Bilder aus der einen Sprache holen und sie in der anderen drehen. Das alles ist möglich. Um noch mal auf den Klavierspieler zurückzukommen: Ich kann die Saiten des Klaviers sozusagen auch noch mit dem Geigenbogen bearbeiten.
Sie haben inzwischen mehr als einmal geäußert, dass es Sie nervt, immer wieder Ihren „Migrationshintergrund“ erklären zu müssen. Auch Menschen, die es eigentlich gut meinen, machen ja Fehler bei der Begegnung mit dem Fremden. Was würden sie sich denn von Ihren Gegenübern wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass man mir erst mal als Person begegnet und nicht direkt als einer Migrantin, die sich integriert oder auch nicht integriert hat. Wenn dann, während man sich als Personen kennenlernt, auch Fragen kommen, die sich auf die Herkunft beziehen, ist das selbstverständlich vollkommen in Ordnung. Ich möchte nur nicht darauf reduziert werden.
Mit Ihren Büchern, in denen Sie immer wieder vom Fremdsein und vom Anderssein erzählen, sind sie häufig in Schulen mit Schülern aus aller Welt zu Gast. Was geben die Kinder Ihnen mit?
Ihre Geschichten, wenn ich Glück habe. Und diese Wortspielereien, die sie spontan entstehen lassen. Kinder haben ja eine Art und Weise, etwas auszudrücken, ohne sich im Kopf Grenzen zu setzen. An der Art, wie sie Fragen stellen, wie sie Dinge betrachten, geben sie mir eine ganz andere Sichtweise mit, die wir Erwachsenen uns nicht immer zutrauen.
Und was möchten Sie diesen Kindern aus Ihrer persönlichen Erfahrung vermitteln?
Das Pippi-Langstrumpf-Gefühl. Dass man sich unterscheiden darf, dass man, übertragen gesehen, einfach zwei verschiedenfarbige Strümpfe tragen kann, dass das vollkommen in Ordnung ist. Ich glaube, es ist auch das Gefühl von Ihr- könnt-etwas-werden, und zwar nicht obwohl, sondern weil.