Exklusiv Der frühere Generalinspekteur Harald Kujat übt scharfe Kritik am Vorgehen der Nato in der Ukraine-Krise. Wenn es weder die Möglichkeiten noch den Willen gebe zu agieren, dürfe man militärisch auch nicht drohen, sagt er.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Stuttgart. - Die transatlantische Verteidigungsallianz drohe Russland in der Ukraine-Krise, obwohl sie weder die Möglichkeiten noch den Willen habe, militärisch vorzugehen, rügt der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat. Von 2002 bis 2005 war er als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses zudem der ranghöchste deutsche Soldat im Bündnis.
Herr Kujat, haben die Nato-Partner zu früh abgerüstet? War der Abbau gerade konventioneller Waffensysteme voreilig?
Alle Staaten haben nach dem Ende des Warschauer Paktes die Friedensdividende eingefahren – es war vernünftig, von den hohen Zahlen bei den Streitkräften herunterzukommen. Doch haben einige Staaten zugleich eine Richtungsänderung in Ausrüstung und Bewaffnung vorgenommen – Landes- und Bündnisverteidigung stand nicht mehr an erster Stelle. Angesichts der Ereignisse in der Ukraine stellt sich die Frage, ob dies richtig war. Da muss ich sagen: Es war sicherlich eine falsche Entscheidung.
Warum?
Erstens sind Streitkräfte, die vor allem auf Krisenintervention ausgerichtet sind, nicht automatisch fähig zur Landes- und Bündnisverteidigung. Zweitens ist unsere Verfassung in diesem Punkt eindeutig: Krisenintervention kann nur eine Zweitrolle von Streitkräften sein. Und wenn man die Befürchtungen unserer Verbündeten ernst nimmt, hat auch die Realität erwiesen, dass man bei der Neuausrichtung zu weit in die falsche Richtung gegangen ist. Es gibt derzeit in der Nato sehr intensive Gespräche darüber, wie man die Streitkräfte wieder auf Kurs bringen kann, indem die kollektive Verteidigungsfähigkeit gestärkt wird. Dazu gehört auch, dass die finanziellen Aufwendungen verstärkt werden.
Also hätten die großen Panzereinheiten nicht abgebaut werden dürfen?
Eine Konsequenz aus der Richtungsänderung war, dass man zum Beispiel den Anteil der Infanteriekräfte zu Lasten von Panzerkräften erhöht und die Hauptwaffensysteme deutlich reduziert hat. Im Jahr 2000 verfügten wir über 4800 modernste Kampfpanzer – jetzt, nach zwei Bundeswehr-Reformen, sind es nur noch 225. Das ist ein unverhältnismäßig hoher Abbau. Hinzu kommt: Tatsächlich wurde nicht gleichzeitig die Qualität verbessert – es wurde in wesentlichen Bereichen der Bundeswehr lediglich reduziert.
In welche Richtung soll die Nato gehen?
Die Nato muss wie auch Deutschland zu ihren Kernaufgaben zurückfinden, also zur kollektiven Verteidigung. Die Mitgliedsstaaten müssen diese Fähigkeit wieder entwickeln. Im Augenblick hätte die Nato große Mühe, die Verbündeten in Polen oder den baltischen Staaten zu schützen, wenn es zu einem Bündnisfall käme. Es würde sehr lange dauern, bis die notwendige Zahl geeigneter Verteidigungskräfte vor Ort wäre. Russland hat nach dem Verschwinden der Sowjetunion die Streitkräfte zunächst auch vernachlässigt, inzwischen aber sehr viel getan.
Hat man die Modernisierung unterschätzt?
Nein, man hat das durchaus gesehen. Aber die damit verbundenen strategischen Ziele wurden nicht erkannt, weil man sich sicher fühlte. Dabei hätte schon der Fall Georgien 2008 ein Weckruf sein müssen. Da hat sich gezeigt, dass die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft überhaupt keine Sicherheit bedeutet und dass man nur Staaten in die Nato aufnehmen darf, denen man den Schutz des Nato-Vertrags zusichern kann. Ähnlich ist die Situation in der Ukraine: Ich habe immer gesagt, die Ukraine kann nicht Nato-Mitglied werden – aufgrund ihrer inneren Situation und wegen der Verpflichtung zum Beistand im Falle einer Mitgliedschaft. Die Nato kann den Schutz der Ukraine nicht garantieren.