Der Schriftsteller Ingo Schulze betrachtet die politische Klasse mit Argwohn. Jetzt hat er den Essay „Unsere schönen neuen Kleider“ vorgelegt, in dem er sich mit den Ursachen von Demokratieverlust und sozialer Polarisierung beschäftigt.

Berlin – Ingo Schulze betrachtet die politische Klasse mit Argwohn. Jetzt hat er den Essay „Unsere schönen neuen Kleider“ vorgelegt, in dem er sich mit den Ursachen von Demokratieverlust und sozialer Polarisierung beschäftigt.
Herr Schulze, Sie haben neulich überraschend Frau Merkel gelobt. Es ging dabei um die Formulierung der Kanzlerin von der „marktkonformen Demokratie“. Was gefällt Ihnen daran?
Es ist ein fürchterlicher Begriff, aber mit ihm brachte Angela Merkel unsere Verhältnisse auf den Punkt. Sie dachte öffentlich darüber nach, wie die parlamentarische Mitbestimmung marktkonform gestaltet werden könnte. Das Parlament, die Demokratie richten sich an den sogenannten Märkten aus. Das halte ich für den demokratischen Sündenfall schlechthin. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie die Märkte demokratiekonform gestalten werden können.

Glauben Sie nicht mehr daran, dass wir von Politikern regiert werden?
De jure schon, aber die Politik betreibt eine Selbstentmachtung. Es ist doch lächerlich, wenn einerseits immer das Primat der Politik betont wird und im nächsten Satz heißt es dann: die Märkte müssen beruhigt werden, wir müssen das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen. Wer sind denn die Märkte? Mit Märkten werden doch gar nicht mehr jene Menschen bezeichnet, die tatsächlich Handel treiben, sondern jene, die in möglichst kurzer Zeit viel Gewinn machen wollen, also spekulieren. Das ist denen auch nicht vorzuwerfen, solange sie legal handeln. Aber wenn es legal ist, ganze Länder dadurch in Schieflage zu bringen und die Bevölkerung als Geisel für die Verluste zu nehmen – sollen wir dann auch noch um deren Vertrauen buhlen?

Was hat sich im Selbstverständnis von Politikern verändert?
Mit Thatcher und Reagan kam etwas in Gang, das nach dem Mauerfall zum siegreichen Modell erklärt wurde: Der Staat soll sich raushalten, bis alles privatisiert ist, danach ist er sowieso überflüssig. Davon geblieben ist immerhin noch die Vorstellung, der Markt sei etwas Objektives, auf das wir Bürger bestenfalls durch unsere Kaufentscheidung und niedrige Tarifabschlüsse Einfluss haben. Historische und politische Entscheidungen – zum Beispiel, ob Hedgefonds agieren dürfen ¬ werden zu naturgegebenen Bedingungen umgedeutet. Es gibt Hedgefonds, also müssen wir mit ihren Praktiken leben und uns darauf einstellen. Und schließlich darf doch jeder seine Ersparnisse bei denen anlegen. Im Grunde nimmt sich die Politik selbst nicht ernst. Wenn wir das zulassen, und es sind ja alles gewählte Politiker, dann nehmen wir uns als Bürger, die eine Verantwortung für das Gemeinwesen tragen, auch nicht ernst.

Sie kritisieren die komplette Ökonomisierung der Gesellschaft und nennen unser System eine Postdemokratie – was meinen Sie damit genau und was muss sich ändern?
Postdemokratie würde ich es nicht mehr nennen, eher Pseudodemokratie. Damit meine ich unseren Alltag. Wenn ich um einen Arzttermin bitte und als Erstes gefragt werde, ob ich Privatpatient bin oder nicht, statt dass es um Dringlichkeit geht, dann ist das nicht akzeptabel. Solche Bedingungen darf die Politik nicht hinnehmen. Wenn sogenannte Leihbeamte in Ministerien sitzen und an Gesetzen mitarbeiten, die jene Firmen kontrollieren sollen, von denen sie selbst aber bezahlt werden, kann das nicht im Interesse des Gemeinwesens liegen. So einen Sachverhalt nannte man früher Korruption. Und das sind ja keine Einzelfälle. Wenn der Lärmschutzbeauftragte für die Region Frankfurt am Main von Fraport, also vom Flughafenbetreiber, bezahlt wird – wie soll das denn funktionieren? In der Bildung spielt Geld auch immer mehr eine Rolle. Es geht in aller Regel um ganz grundlegende Dinge. In Berlin wurden beispielsweise die Wasserbetriebe teilprivatisiert. Wie kann man nur auf die Idee kommen, Trinkwasser einem Profitstreben zu unterwerfen? Es brauchte eines Volksentscheides – dem ersten erfolgreichen Volksentscheid in Berlin überhaupt – um gegen die gewählten Volksvertreter eine Rekommunalisierung durchzusetzen. Jetzt beim Rückkauf drängt sich der Verdacht auf, der Senat vertrete allein die Interessen von RWE und Veolia.

Welche Entscheidungen, Versäumnisse oder Richtungswechsel haben aus Ihrer Sicht zur Unterhöhlung der Demokratie geführt? Und inwieweit hat die Wende dabei eine Rolle gespielt?
Mit dem Weltenwechsel von 1989/90 entstand so ein westliches Siegergefühl: Alles was der Osten gemacht hatte, war falsch, alles was der Westen gemacht hatte, war richtig. Fortan würde nur noch gemacht werden, was richtig war. Richtig war, alles zu privatisieren. Es wurde gar nicht mehr gefragt, in welchen Bereichen Privatisierungen sinnvoll sind und in welchen nicht. Mit dem Fall der Mauer kam uns merkwürdigerweise die Vorstellung einer Alternative abhanden, als könnte die Welt nur noch so sein, wie sie ist.