Der Sieger und Publikumsliebling der Londoner Paralympics opfert seine freien Tage für den Erfolg im Tischtennis. Im Interview spricht er über den hohen Aufwand.

Stuttgart – Jochen Wollmert ist am Montagabend mit einer Goldmedaille im Gepäck von den Paralympics in London nach Stuttgart zurückgekehrt. „Die Herzlichkeit, die Anerkennung und das frenetische Anfeuern der Briten waren einmalig“, sagt der erfolgreiche Tischtennisspieler.
Herr Wollmert, Ihr Wunsch ist also in Erfüllung gegangen: Sie sind im Finale der Paralympics in London wie 2008 auf den Lokalmatadoren getroffen und haben gesiegt. Wie haben Sie das nur wieder hinbekommen?
So richtig weiß ich das eigentlich selbst immer noch nicht. Ich war einfach auf den Punkt topfit und hatte einen Lauf. Mein Ziel war eine Medaille. Das ist in meiner Schadensklasse 7 nicht so einfach, weil 14 der 18 Teilnehmer auf einem Niveau schwimmen. Ich hatte gegen meine jungen Gegner auch zuletzt nicht so oft gewonnen. Doch ich konnte gegen die Jungen noch mithalten, die alle mehr trainieren als ich – ich muss ja auch noch mit meinem Job meinen Lebensunterhalt verdienen.

Ist das bei Ihren Konkurrenten anders?
Mein britischer Finalgegner William Bayley trainiert fünfmal in der Woche sechs Stunden lang – seit sechs Jahren schon. Bei den Ländern, die die Paralympics ausrichten, ist natürlich deutlich mehr Geld im Töpfchen. Doch auch die beiden Ukrainer, die bei mir im Wettbewerb waren, sind Vollprofis. Der Spanier, den ich im Viertelfinale geschlagen habe, ist beim spanischen Tischtennisverband angestellt. Der Tscheche und der Ägypter, gegen die ich in der Gruppenphase gewonnen habe, machen auch nichts anderes.

Fühlen Sie sich genug unterstützt – oder welches Verbesserungspotenzial sehen Sie bei der Förderung in Deutschland?
Wir sind auf einem ganz guten Weg. Es gibt eine finanzielle Förderung der Sporthilfe über das Topteam London, das vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) nominiert wird. Man wird von der Arbeit teilweise freigestellt, und die Sporthilfe gleicht das Gehalt aus – mit bis zu 1500 Euro im Monat. Bei mir waren es 2011 zwei Stunden pro Tag, die ich für das Training nutzen konnte. Ende des vergangenen Jahres bin ich allerdings aus der Förderung rausgeflogen, weil ich bei den Europameisterschaften 2011 nur Vierter geworden war. Ich habe die Kriterien damit nicht mehr erfüllt. Vielleicht hat man beim DBS auch nicht mehr dran geglaubt, dass der alte Wollmert in London noch eine Medaille holen kann.

Wie sehr hat das Ihre Vorbereitung erschwert?
Ich habe einen 40-Stunden-Job, dazu sind dann in den letzten acht Monaten 15 bis 20 Stunden Training pro Woche obendrauf gekommen – da bleibt wenig Luft für anderes. Als ich im November von meiner Streichung aus dem Topteam London erfuhr, war ich schon schockiert und habe mich gefragt: wie willst du das hinbekommen? Mein Heimtrainer Volker Ziegler hat mir aber immer gut zugeredet. Auch der Olympiastützpunkt Stuttgart hat an mich geglaubt und mich weiter unter anderem mit Physiotherapie unterstützt. Es war schön, es allen noch mal zeigen zu können – und den Leuten, die anders als der DBS hinter mir standen, etwas zurückgeben zu können.

Für Ihren herzlichen Trost für den 23-jährigen britischen Finalverlierer William Bayley sind Sie in London zum Publikumsliebling avanciert. Wie haben Sie selbst den Moment des Triumphs erlebt?
Als ich den Matchball verwandelt hatte, war erst einmal eine unbeschreibliche Freude da. William lag auf dem Boden und war tief enttäuscht. Obwohl wir nicht beste Freunde sind, habe ich situativ entschieden, ihn zu trösten und ihm gesagt, dass seine Zeit noch komme. Ich habe ihn dann hochgezogen und dem Publikum präsentiert. Wir waren beide Sieger, er hatte mir alles abverlangt – nur kann es in so einem Finale halt nur einen Gewinner geben. Dass das so Wellen schlägt, hätte ich nicht gedacht. Das Trostbild war viel in der englischen Presse, die Leute haben mich auch beim Abflug erkannt, das war schon schön. Angeblich ist sogar geplant, mich für einen Fairplaypreis vorzuschlagen.

Maria Kühn und Annabel Breuer, die ebenfalls vom Olympiastützpunkt (OSP) Stuttgart betreut werden, haben mit dem Rollstuhlbasketball-Nationalteam Gold gewonnen. Haben Sie das Spiel live verfolgt?
Ich habe das Finale im Deutschen Haus im Fernsehen angeschaut. Wir sind nicht mehr an Karten rangekommen, die Spiele waren ja ausverkauft. Maria sehe ich immer wieder am OSP. Am letzten Abend haben wir zusammen in einer Kneipe unsere Erfolge gefeiert. Es ist schön, dass zu dem Olympiasilber des Turners Marcel Nguyen für den OSP Stuttgart jetzt noch unser Gold obendrauf gekommen ist.

Sydney 2000 lag in Ihrer persönlichen Paralympics-Rangliste bisher ganz vorne. Wo ordnen Sie diese Spiele ein?
London steht jetzt auf eins. Es war phänomenal. Die Herzlichkeit, die Anerkennung und das frenetische Anfeuern der Briten waren einmalig. Beim Aufschlag und beim Rückschlag habe ich im Finale selten den Ball auf der Platte aufhüpfen gehört, das war schon verrückt. So eine Stimmung in der Halle hatte ich bisher noch nicht erlebt. Das Olympiastadion war mit 80 000 Zuschauern ja auch fast immer ausverkauft.

In London waren Sie zum sechsten Mal bei Paralympics dabei. Was hat sich seit Ihrer Premiere 1992 in Barcelona verändert?
Alles ist deutlich professioneller geworden. In Atlanta mussten wir 1996 noch den Busfahrern erklären, wo unsere Halle ist. Seit 2000 kommt auch immer mehr der Leistungssportgedanke rein. Auch das Medieninteresse ist größer geworden.

Vor London hatten Sie eine siebte Teilnahme 2016 in Rio offen gehalten. Wie sieht Ihre Tendenz nach der Titelverteidigung aus?
Ich höre jetzt definitiv noch nicht auf. Rio würde mich generell reizen, aber das ist noch vier Jahre hin, und es ist viel Zeit, die dafür draufgeht. Ich würde auch gerne mal Urlaub machen und meine Urlaubstage nicht nur fürs Tischtennis nutzen. Ich halte mir das deshalb alles weiter offen.