Bundestagspräsident Norbert Lammert bekräftigt im StZ-Interview seine umstrittene Entscheidung, Eurokritikern Redezeit einzuräumen.  

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Bei dem Beschluss über den Eurorettungsschirm haben wenige Abweichler den in der Bevölkerung weit verbreiteten Besorgnissen eine Stimme verliehen. Das setzte der Parlamentspräsident gegen Union, SPD, FDP und Grüne durch. "Das Wesen einer Demokratie besteht eben darin, dass es auch Minderheitsrechte gibt", betont Lammert.

 

Herr Lammert, in der Union wird über den Umgang mit den Eurodissidenten gestritten. Wie denken Sie darüber?

Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur die Unionsfraktion. Es geht da um sehr grundsätzliche Dinge, die sowohl die verfassungsrechtliche Stellung von Abgeordneten betreffen als auch die praktischen Funktionsbedingungen eines Parlaments. Deswegen finde ich es auch nicht weiter erstaunlich, dass der konkrete Anlass in der vergangenen Woche jetzt bei einer Reihe von Beteiligten zum Nachdenken führt.

Ihre Entscheidung, den Abweichlern Rederecht einzuräumen, wurde heftig kritisiert. Haben Sie mit dem Gegenwind gerechnet?

Was die Einmütigkeit der Abwehrfront und die Heftigkeit der Reaktionen der Fraktionsführungen betrifft, so hat mich das schon überrascht - und auch ein bisschen irritiert. Ich finde es merkwürdig, in welcher Geschwindigkeit hier ein eher prinzipielles Problem allein auf praktische Fragen reduziert wurde - unter Ausklammerung grundsätzlicher Erwägungen. Im Übrigen lassen sich auch die Erwartungen der Öffentlichkeit an einen vitalen Parlamentarismus damit nur schwer vereinbaren.

Haben Sie dennoch Verständnis für die Bedenken der Fraktionen?

Selbstverständlich. Natürlich haben die Fraktionsführer recht, dass die Parlamentssitzungen in ihren Abläufen kalkulierbar bleiben müssen. Auch in Zukunft werden wir sicher keine Debatten erleben, bei denen jeder einzelne Abgeordnete seine persönliche Meinung vor dem Plenum des Deutschen Bundestages vorträgt.

Bei Grundsatzdebatten würden Sie aber auch künftig Abgeordneten mit abweichenden Meinungen Gelegenheit einräumen, diese öffentlich darzulegen?

Nach meiner Überzeugung sollte der amtierende Präsident bei einer vergleichbaren Situation ähnlich entscheiden.

Wenn Einzelmeinungen derart privilegiert werden, ist das nicht eine Missachtung des Mehrheitsprinzips, auf dem der Parlamentarismus fußt?

Im Gegenteil: das Wesen einer Demokratie besteht eben darin, dass es nicht nur Mehrheitsrechte, sondern auch Minderheitsrechte gibt. Mehrheiten entscheiden auch im chinesischen Volkskongress, Mehrheiten haben auch in der Volkskammer der DDR entschieden, in der Regel einstimmig. Ich lege großen Wert darauf, dass unser Verständnis von Demokratie und Parlament sich eben nicht alleine auf den Umstand reduziert, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern dass auch Minderheiten zur Geltung kommen und dass sie eigene Rechtsansprüche haben.

Geht es Ihnen auch darum, dass diese Minderheiten Sorgen und Bedenken artikulieren, die offenbar viele Bürger umtreiben?

Es wäre nicht nur nach meinem Verständnis, sondern auch nach vielfältig artikulierten Erwartungen der Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar gewesen, dass in einer Debatte zum Thema Euro, bei der es eine bemerkenswert breite Zustimmung in fast allen Fraktionen zum Vorschlag für eine Reform des Eurostabilisierungsfonds gab, aber eine genauso breite Besorgnis in der Bevölkerung, nahezu ausnahmslos Befürworter zu Wort gekommen wären. Die interessierte Öffentlichkeit hätte ihre eigenen Zweifel in einer solchen Debatte gar nicht wiedergefunden.

Haben Sie den Eindruck, dass die Minderheit der Euroabweichler in ihren eigenen Reihen gemobbt wird?

Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ich weiß sogar von einigen Abgeordneten, dass sie die Gespräche mit der jeweiligen Fraktionsführung als ausgesprochen fair und angemessen empfunden haben. Von Druck könne keine Rede sein.

Es soll aber auch Gespräche gegeben haben, bei denen die Tonlage etwas rüder war. Kanzleramtsminister Ronald Pofalla hat zum Beispiel den CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach wüst beschimpft. Was halten Sie von diesem Umgangston?

Da die Beteiligten erklären, dass sie die Sache für erledigt halten, sehe ich keine Veranlassung, sie nochmals zu erörtern. Dazu ist alles Nötige gesagt.

Zweiter Mann im Staate

Präsident Seit 2005 ist Norbert Lammert der ranghöchste Abgeordnete des Deutschen Bundestags und damit nach dem Bundespräsidenten der zweite Mann im Staate. Der 62-jährige Christdemokrat sitzt seit 1980 im Parlament.

Streitbar Der Bundestagspräsident scheut kein offenes Wort und weder Konflikte mit der eigenen Partei noch mit der Regierung, wenn er die Rechte des Parlaments beeinträchtigt sieht. So hat er sich gegen Eilentscheidungen gewandt, bei denen die Abgeordneten nicht ausreichend Zeit für Debatten haben.