Ich stelle bei Ihnen ein ausgeprägtes historisches Interesse fest, sei’s geisteswissenschaftlicher, sei’s politischer Art.
Das sehen Sie richtig. Man muss sich schließlich immer klar machen, dass das, was wir heute haben und leben, das Ergebnis komplexer Entwicklungen ist. Manchmal bin ich mehr Historiker als Theatermann. Aber ich weiß, dass die meisten Zuschauer andere Sehnsüchte haben.
Pfeifen Sie auf Zuschauererwartungen?
Ich bediene sie nicht. Theater ist, zumindest für Theatermacher, ein Luxus. Schiller spricht vom „zweckfreien Spiel“, für Marx ist Kunst generell eine Modellfall freier geistiger Arbeit. Das heißt: ich bin hier keiner Zweckgebundenheit, keiner Abhängigkeit, keiner Entfremdung ausgeliefert. Zusammen mit meinen Schauspielern versuche ich immer wieder, diese luxuriöse Sphäre auch auszuleben – als Gegengewicht zu Auflagenhöhe und Einschaltquote, dieser politisch sehr korrekten Weise, das öffentliche Bewusstsein außerhalb des Theaters zu strukturieren. Dieses Bewusstsein aber interessiert mich nicht. Ich kann „Neger“ und „Jude“ sagen, weil ich weiß, dass ich kein Rassist bin. Ich halte mich nicht an die Spielregeln, die mir eine amerikanisierte Gesellschaft vorgeben will. Eigentlich bin ich Nichtraucher, aber in einer Zeit, wo das Rauchen allerorten inkriminiert wird, bin ich auf dem Weg zum Raucher. Vielleicht ist das aber auch wieder nur ein psychopathogener Zug von mir . . .
Das aktuelle Motto Ihrer Berliner Volksbühne heißt: „No Service – Wider die Konsenskultur“. Was haben Sie gegen den Konsens?
Kunst kann nichts mit Konsens zu tun haben. Nur der Widerspruch ist interessant. All die Toten bei Shakespeare, dieses prinzipielle Morden bei ihm: dahinter steht, wie bei den alten Griechen, die Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaft. Wir haben in unserer Demokratie vielleicht mit der Freiheit, vielleicht sogar auch mit der Gleichheit Ernst gemacht, aber brüderlich zueinander sind wir sicher nicht. Uns fehlt das altchristliche Moment der Nächstenliebe. Und auf diesen Mangel müssen wir schon mit Schweiß, Blut und Tränen hinweisen – und nicht mit der Suche nach Konsens.
Apropos: Ihr „Ring“ in Bayreuth ist heftig angefeindet worden.
Oper ist für einen Freibeuter wie mich ein begehrtes Kaperschiff – und Bayreuth im Speziellen ist die schönste Beute, die man sich wünschen kann. Da sitzen Kenner mit Partituren auf den Knien und verbringen mit Kunst ihre Lebenszeit. Wenn diese Menschen „Buh“ rufen, haben sie ein Recht dazu, denn es sind gute, gleichwertige Gegner und Feinde. Anders in Berlin: da sagen die Leute „ey, cool“, aber haben keine Ahnung von irgendwas. Der Zustand der Bildungsnation Deutschland ist schon höchst fragwürdig. Schauen Sie sich eine x-beliebige Talkshow im Fernsehen an: ein trauriger Zustand der völligen Verblödung in unendlicher Wiederholung.
Wenn in so einer Show Frau Merkel sitzen würde: wen würden Sie in ihr sehen?
Eine Frau, die eine christliche Nächstenliebe hat und versucht, diese Liebe in Politik umzusetzen. Eine Frau, die man immer unterschätzt hat, ich besonders – und nicht zuletzt eine Frau, die vielleicht das Beste ist, das Deutschland derzeit passieren konnte.