Matthias Wissmann, der Präsident des Verbands der Automobilindustrie, fordert im StZ-Interview von der EU-Kommission einen stärkeren Einsatz für einen freien Welthandel.

Stuttgart - Argentinien verlangt von deutschen Autoherstellern, dass sie Reis und Leder kaufen. Brasilien erhebt horrende Luxussteuern. Für die Autoindustrie wird die steigende Zahl von Handelshemmnissen zum Problem.
Die deutsche Autoindustrie hängt stark vom Export ab. Wie sind die Perspektiven in Zeiten, in denen nicht nur Südeuropa kriselt, sondern auch in Schwellenländern die Wachstumsraten kleiner werden?
Wir haben derzeit auf dem südeuropäischen Markt sowohl bei Nutzfahrzeugen als auch bei Pkw Rückgänge. Aber weil die deutschen Pkw-Hersteller global aufgestellt sind, können sie – im Gegensatz zu manchen Wettbewerbern – Nachfrageschwächen in einzelnen Märkten durch Wachstum in anderen Regionen ausgleichen. Im bisherigen Jahresverlauf haben wir unseren Marktanteil in den USA, in Russland, Brasilien und China gesteigert; übrigens auch in West- und Osteuropa. Der Weltautomobilmarkt wird in diesem Jahr um drei bis fünf Prozent zunehmen. Und auch der für die deutschen Nutzfahrzeughersteller relevante Weltmarkt bleibt 2012 stabil.

Einige Autohersteller kündigten Kurzarbeit an. Droht in Deutschland eine Rezession?
Der Pkw-Inlandsmarkt liegt mit 2,1 Millionen Neuzulassungen bis August auf Vorjahresniveau. Das gilt auch für den Export und die Produktion. Wir erwarten keinen Absturz wie 2008/09, als das Geschäft der Hersteller und Zulieferer innerhalb weniger Wochen massiv einbrach. Der Weg wird aber steiniger. Vor allem für die Hersteller, die ihren Absatzschwerpunkt in Westeuropa haben. Für die gesamte Wirtschaft im Euroraum hoffen wir, dass eine Beruhigung an den Finanzmärkten einkehrt. Dann dürften sich die konjunkturellen Aussichten für das kommende Jahr langsam verbessern.

Die deutsche Autoindustrie ist wie kaum eine andere Branche vom Welthandel abhängig. Gerät in Schwellenländern der freie Welthandel unter die Räder – Beispiele dafür sind Brasilien und Argentinien?
Wir sehen mit Sorge in vielen Ländern die Tendenz zum wachsenden Protektionismus. Die EU-Kommission hat seit 2008 weltweit rund 400 neue protektionistische Maßnahmen registriert. Immer häufiger versuchen Länder, sich abzuschotten oder in den Handel einzugreifen. Dabei erkennen die jeweiligen Regierungen oft nicht, dass sie sich selbst am meisten schaden. Der VDA versteht sich als Bannerträger eines freien Welthandels. Diese Rolle ist notwendiger denn je, denn die Beschwerden häufen sich. Aus Argentinien ist bekannt, dass zum Beispiel Porsche nur Fahrzeuge einführen kann, wenn das Unternehmens Wein abnimmt. BMW gleicht mit Reis- und Lederkäufen aus. Das ist absurd und schadet vor allem Argentinien selbst. Brasilien erschwert den Marktzugang, indem es horrende Steuern auf importierte Industriegüter erhebt. Sorgen bereitet uns auch Russland. Nur wenige Tage nach seinem jüngsten Beitritt zur Welthandelsorganisation und der damit verbundenen Zollsenkung für Pkw-Einfuhren hat Russland eine so genannte Recyclinggebühr beschlossen. Diese Abgabe gilt nur für importierte Autos und ist teilweise sogar höher als die bisher geltenden Zölle. Solche Verstöße gegen den freien Handel dürfen nicht zur Regel werden.

Sollte die EU-Kommission stärker gegen die Beschränkungen des Welthandels vorgehen?
Die EU ist der weltgrößte Handelsblock, noch vor USA und Japan. Aber bisher ist aus dieser starken Ausgangsposition zu wenig gemacht worden. Die heutige Handelspolitik der EU ist entscheidend für die Frage, wie viele Industriearbeitsplätze es in 20 Jahren in Europa noch geben wird. Schon jetzt kommt das größte Wachstum aus Schwellenländern. Nur ein freier Welthandel macht den Export aus Europa in Schwellenländer möglich. Das ist, neben der lokalen Produktion vor Ort, unser Erfolgsrezept. Deshalb appellieren wir an die EU-Kommission, konsequenter gegen protektionistische Maßnahmen vorzugehen. Brüssel muss bei Handelsabkommen darauf achten, dass am Ende die Hemmnisse auch auf beiden Seiten abgebaut werden. Ich nenne dafür ein Beispiel: Die deutsche Autoindustrie hätte gern ein Freihandelsabkommen mit Indien. Wenn Europa die Zolltarife auf null senkt, sollte dies nach einer Übergangsfrist auch für Indien gelten. Es darf nicht passieren, dass Schwellenländer Hürden bestehen lassen und Europa einseitig in Vorleistung geht.

Eine Untersuchung der 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G20) hat ergeben, dass die protektionistischen Maßnahmen ständig zunehmen. Dennoch geht die G 20 das Thema nicht an. Welches Forum sollte sich darum kümmern?
Das geeignete Forum ist die Welthandelsorganisation. Ziel sollte sein, nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen einen neuen Anlauf zu einer neuen Welthandelsrunde zu wagen. In der Vergangenheit waren zum Abschluss eines neuen Welthandelsabkommens die Vereinigten Staaten, Japan und Europa entscheidend. Heute haben auch die Schwellenländer ein starkes Gewicht, da sie wirtschaftlich wachsen und einen Großteil der Weltbevölkerung repräsentieren. Die Schwellenländer sind sich aber bei handelspolitischen Themen nicht einig. Wir benötigen Länder wie Indien, China und Brasilien als Fürsprecher eines neuen Abkommens.

Weil die Verhandlungen in der Welthandelsrunde stocken, forciert die EU stärker bilaterale Freihandelsabkommen. Läuft die Autoindustrie dabei Gefahr, dass ihre Interessen gegenüber anderen Branchen zu wenig berücksichtigt werden?
In den vergangenen Jahren gab es immer wieder das Problem, dass sich Brüssel einseitig auf den Finanz- und Dienstleistungssektor konzentriert hat. Die Interessen der Industrie wurden dabei vernachlässigt. Wir hoffen, dass sich dies künftig ändert. Das Wachstum der Weltwirtschaft könnte dadurch beflügelt werden, dass die Welthandelsrunde zum Abschluss gebracht wird. Leider ist dies für die nächsten zwei bis drei Jahre wenig realistisch. Deshalb ist es vernünftig, bilaterale Handelsabkommen voranzutreiben. Schwerpunkte sollten Indien, Lateinamerika und Asean-Länder wie Thailand und Malaysia sein. Auch Europa und Nordamerika sollten endlich die Kraft aufbringen, um tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen. Es ist doch unbefriedigend, dass wir im Automobilbereich zwischen zwei hoch entwickelten Kontinenten immer noch unterschiedliche Standards bei Umwelt und Sicherheit haben. Neuer Elan ist dringend notwendig.

Wird die Bedeutung der Handelspolitik unterschätzt?
Die Automobilindustrie steht heute für mehr als 60 Prozent des gesamten deutschen Exportüberschusses. Der Erfolg auf den Weltmärkten wird von vielen in unserem Land für selbstverständlich gehalten, manche halten sogar Premiumfahrzeuge für nicht wirklich erforderlich. Dabei wird vergessen, dass jeder zweite inländische Arbeitsplatz bei unseren Herstellern an der Produktion von Premiumautos hängt. Weltweit haben wir in diesem Segment einen Marktanteil von 80 Prozent. Vor allem der US-Markt und China werden immer wichtiger. Unser strategisches Ziel muss sein, auch in 20 Jahren die Automobilproduktion in Deutschland zu halten. Dafür ist der freie Welthandel eine elementare Voraussetzung.