Wenn wir die Fälle anschauen, die Aufsehen erregt haben – spielen dort Vorurteile gegen unsympathische Angeklagte eine Rolle?
Ich würde mir wünschen, dass Vorurteile überhaupt keine Rolle spielen. Ich kann andererseits nicht ausschließen, dass dies in Einzelfällen – zu den Aufsehen erregenden Fällen der jüngsten Vergangenheit kann ich gar nichts sagen – doch der Fall ist. Richter sind Menschen. Und auch Richter sind nicht immer frei von Vorurteilen. Das zu leugnen wäre nicht seriös. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass unser Strafprozessrecht den Angeklagten besser als andere Strafprozessordnungen davor schützt, dass er Opfer von Vorurteilen wird. Die Zusammensetzung unserer Richterbänke mit erfahrenen Berufsrichtern und mit Schöffen bietet dafür jedenfalls bessere Voraussetzungen als die von Jury-Gerichten, in denen ungeschulte Laienrichter einmal in ihrem Leben diese Aufgabe wahrnehmen.

Wie kommt es zu Falschgeständnissen?
Wenn wir die spezielle Problematik von Falschgeständnissen im Rahmen des sogenannten „Deals“ außen vor lassen, dann kann es zu Falschgeständnissen etwa kommen, wenn Angeklagte dem Druck des Ermittlungsverfahrens nicht gewachsen sind. Da mögen labile Menschen und Menschen mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten leichter anfällig sein. Sie mögen auch etwaigen suggestiven Fragen von Vernehmungsbeamten eher erliegen. Falsche Geständnisse sind auch schon abgegeben worden, um den wahren Täter zu schützen. Leider wird es immer wieder Falschgeständnisse geben. Wir können nur hoffen, dass sie in der Hauptverhandlung erkannt werden.

Weshalb gibt es kein Wortprotokoll der Hauptverhandlung, mit dessen Hilfe auch richterliche Fehler leichter nachgewiesen werden könnten?
Dieses Thema wird intensiv diskutiert. Ich bin aus verschiedenen Gründen nicht sicher, ob das Wortprotokoll eine gute Lösung wäre. Diskutiert wird zurzeit auch mehr, ob die Vernehmungen und Verhandlungen audiovisuell aufgezeichnet werden sollten. Es stellt sich dann aber die Frage, wie sich dies in unser Rechtsmittelsystem einfügt. In der Revision werden bei uns nur die Rechtsfragen, nicht die Tatsachenfeststellungen überprüft. Gäbe es audiovisuelle Aufnahmen, würde das notwendigerweise auf eine Tatsachenüberprüfung in der zweiten Instanz hinauslaufen. Natürlich kann und muss man überlegen, ob man in diese Richtung gehen will. Ich befürchte aber, dass das nicht leistbar wäre, und hätte auch Sorge vor einem so tiefgreifenden Struktureingriff in ein System, das sich insgesamt bewährt hat und im Vergleich zu anderen Systemen als wenig fehleranfällig erwiesen hat.

Was bedeutet ein Fehlurteil für den Betroffenen?
Ein Fehlurteil mit der Folge einer mehrjährigen oder lebenslangen Freiheitsstrafe – darüber sprechen wir ja hier – ist schlicht eine Katastrophe, ein Albtraum. Da wird jemand unter Umständen vollständig aus der Bahn geworfen. Da wird möglicherweise eine Existenz zerstört. Verlust sozialer Bindungen. Schwerste psychische Belastungen.

Was bedeutet ein Fehlurteil für den Richter?
Das Schrecklichste, was ihm passieren kann: zu erfahren, dass man daran mitgewirkt hat, dass ein Mensch für Jahre unschuldig hinter Gittern gesessen hat, welches Leid man ihm und seiner Familie zugefügt hat, da kommen notwendigerweise Zweifel auf, ob man den Beruf weiter ausüben kann, jedenfalls ob man weiter als Strafrichter tätig sein kann.

Weshalb sind Wiederaufnahmeverfahren so schwierig und so selten erfolgreich?
Ihre Frage suggeriert, dass Wiederaufnahmeverfahren zu Unrecht selten erfolgreich sind. Ich sehe dafür keine Anhaltspunkte. Richtig ist aber, dass die Strafprozessordnung hohe Hürden vor eine Wiederaufnahme stellt. Das Wiederaufnahmerecht ist ein Kompromiss. Es geht auf der einen Seite darum, dass Prozesse irgendwann einmal endgültig abgeschlossen sein müssen; es gibt immer wieder Angeklagte, die sich nicht damit abfinden wollen, dass sie – zu Recht – verurteilt worden sind. Ihre Sache kann nicht endlos immer wieder neu aufgerollt werden. Auf der anderen Seite muss es aber die Möglichkeit geben, das Verfahren wieder aufzunehmen, wenn es greifbare Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein Unschuldiger verurteilt worden ist. Unsere Strafprozessordnung versucht, diesen Interessenkonflikt dadurch zu lösen, dass das Verfahren nur unter engen Voraussetzungen aufgenommen werden kann, etwa dann, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden.

Die Weiterentwicklung der DNA-Analyse führt zur Aufdeckung vieler Verbrechen. Sie könnte auch die Aufdeckung von Fehlurteilen erleichtern. Weshalb geschieht das nicht?
Die DNA-Analyse dient in der Tat regelmäßig dazu, nachträglich, unter Umständen nach vielen Jahren schwere Straftaten aufzuklären. Warum sie bislang – soweit ich informiert bin – noch nicht zur Aufdeckung von Fehlurteilen geführt hat, kann ich nicht sagen. Möglich wäre das. Wenn nach rechtskräftiger Verurteilung eines Angeklagten eine ihn entlastende DNA-Analyse durchgeführt würde, wäre dies ein neues Beweismittel, das zur Wiederaufnahme des Verfahrens und zum Freispruch führen könnte. Ein faktisches Hindernis für eine Wiederaufnahme aufgrund neuer DNA-Analysen könnte sein, dass einfach kein auswertbares oder kein noch nicht ausgewertetes Spurenmaterial zur Verfügung steht.