Der Nobelpreisträger Günter Grass kritisiert mit all seiner moralischen Autorität die Rolle Israels im Atomstreit mit dem Iran. Entlarvt er sich damit als Antisemit?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Seit Mittwoch hat Deutschland wieder einen Intellektuellenstreit. Der 84-jährige Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben, das geeignet scheint, die Medien über Tage hinweg ausgiebig zu beschäftigen. Es geht um Israel, Atomwaffen, den Holocaust und Antisemitismus.

 

Wo soll man da anfangen?

Versuchen wir es so. Ebene eins: der Kern. Seit Jahren gärt ein Streit zwischen dem Iran und anderen Ländern dieser Welt. Iran baue heimlich eine Atombombe, so der Vorwurf, um Israel vernichten zu können, zumindest dessen jüdische Bevölkerung. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad bestreitet dies zwar, wurde in der Vergangenheit aber schon oft beim Lügen erwischt und macht im übrigen aus seinem Hass gegen Israel keinen Hehl. Die USA und Vertreter der EU bemühen sich, Iran auf diplomatischem Wege und mit Sanktionen zum Einlenken zu bewegen. Israel selbst besitzt seit Jahr und Tag Atomwaffen, wie es sagt, zur Abschreckung, würde diese aber auch präventiv gegen den Iran einsetzen, so Ministerpräsident Netanjahu, und zwar im Zweifel eher früher als zu spät.

Politisch denkend, politisch aktiv

So weit die Lage. Ein besorgniserregendes, ansonsten aber klassisches Thema der internationalen Politik, in dieser wie in vielen Zeitungen der Welt ausführlich behandelt auf den politischen Seiten.

Nun kommt Ebene zwei: Günter Grass, 84 Jahre alt, Literaturnobelpreisträger, seit seiner Jugend als Schriftsteller stets auch politisch denkend, politisch aktiv, Verfasser eines sehr guten Romans und mehrerer interessanter Romane, wobei sein Gesamtwerk noch weitaus größer ist. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit, die Medien und vor allem Grass selbst sehen Günter Grass als letzten klassischen Schriftsteller-Intellektuellen deutscher Zunge, der im Prinzip zu allen Fragen der Welt Stellungnahmen von starkem moralischem Gewicht abzugeben vermag. Klar, auch zum Iran.

Grass hat am Mittwoch in zwei wichtigen Tageszeitungen der westlichen Welt, in „La Repubblica“ (Mailand) und in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Gedicht veröffentlicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“ (die „New York Times“ machte einen Rückzieher). Darin sagt er, dass Israels Atombomben ebenso wenig international kontrolliert würden wie jene des Iran, dass Israel mit einem Präventivschlag gegen den Iran den gesamten Weltfrieden bedrohe und dass Deutschland insofern an dieser Malaise beteiligt sei, als es gerade ein U-Boot an Israel geliefert habe, welches Einrichtungen zum Abschuss von Atomraketen vorhalte. Im Übrigen habe er lange mit dem Aussprechen dieser Einschätzung gezögert, weil er sich Israel so verbunden fühle und weil seine deutsche Herkunft bekanntlich mit dem „nie zu tilgenden Makel“ des Holocaust behaftet sei. Nun aber erhoffe er sich von seinem Gedicht, dass „sich viele vom Schweigen befreien“ und in seinen Protest einstimmen. Mithin eine Befreiung.

Ein stilistisch sehr schlechtes Gedicht

Wer sich nun fragt, wie man all diese sehr politischen Aussagen in Form eines Gedichtes zum Ausdruck bringen kann, dem sei gesagt: Es handelt sich stilistisch um ein sehr schlechtes Gedicht. Von wohlmeinenden Grass-Kritikern wurde es daher umgehend als „Prosagedicht“ eingestuft; das gilt offenbar als Entschuldigung. Letztlich haben wir es aber wohl doch eher mit einem Leitartikel zu tun.

Dieses Leitartikel-Gedicht lag jedenfalls früher als anderen dem deutschen Publizisten Henryk M. Broder vor, womit wir auf der Ebene drei wären. Parallel zum Grass in „La Repubblica“ und der „Süddeutschen“ verfasste der 65-Jährige in der „Welt“ punktgenau eine Entgegnung unter dem Titel „Günter Grass, der ewige Antisemit“. Als sachlichen Kern enthält der Beitrag die Einschätzung, Grass verharmlose die Bedrohung des Weltfriedens im Allgemeinen und im Speziellen Israels durch Mahmud Ahmadinedschad.

Polemischerer Stil

Allerdings pflegt Henryk M. Broder bei derlei Wertungen seit Jahr und Tag einen deutlich polemischeren Stil. Deswegen heißt es bei ihm: „Grass hat schon immer zum Größenwahn geneigt, nun aber ist er vollkommen durchgeknallt.“ Broder knüpft zudem explizit an die Mitgliedschaft von Grass als junger Mann in der Waffen-SS an, die dieser bekanntlich viele Jahrzehnte erfolgreich verheimlicht hatte, und er führt mehrere Interviewzitate früherer Jahre an, in denen Grass einen Rückzug der Israelis aus allen im Lauf der Zeit von den Palästinensern eroberten Gebieten fordert. Da bleibt dann bekanntlich nicht viel.

Mit anderen Worten: für Broder geht es Grass in seinem Gedicht nicht wirklich um eine aktuelle weltpolitische Frage, sondern um das Existenzrecht des israelisch-jüdischen Staates: „Grass ist der Prototyp des gebildeten Antisemiten, der es mit den Juden gut meint.“ Letztlich seien sich Günter Grass und Mahmud Ahmadinedschad in einem Punkt einig: „Damit im Nahen Osten endlich Frieden einkehrt und auch Günter Grass seinen Seelenfrieden findet, soll Israel Geschichte werden.“

Eigentlich könnte man an dieser Stelle das Thema abschließen mit der Feststellung, dass sowohl Grass als auch Broder offenbar gerade ein bisschen Gedanken-Heuschnupfen haben. Grass’ Behauptung, nur er allein traue sich, Israels Rolle im Streit um die Atomwaffen im Nahen Osten kritisch zu beleuchten, während alle anderen Deutschen durch die Holocaust-Erinnerung daran gehindert seien, ist eine in jüngerer Zeit leider Grass-typische heillose Selbstüberschätzung. In den außenpolitischen Kommentaren wird die Rolle Israels seit Jahr und Tag auch sehr kritisch beurteilt; die meisten Autoren wissen das sehr wohl sachgerecht voneinander zu trennen.

Hanebüchene Behauptung

Andererseits ist auch Broders Behauptung, Grass sei Antisemit, hanebüchen. Da man allerdings längst weiß, wie freigiebig der von Aufmerksamkeit auch materiell lebende Broder beim Verteilen dieses Attributs ist, könnte man über seinen „Welt“-Beitrag ebenso schnell hinweggehen wie über das grottenschlechte Gedicht unseres Alt-Nobellers.

Leider wird sich diese unsere Einschätzung aber kaum durchsetzen. Sondern Deutschland hat eine neue Intellektuellendebatte über Israel, Atomwaffen, Holocaust, Antisemitismus mit vielen weiteren Ebenen auf der nach oben offenen Erregungsskala. Am Problem selbst – den möglichen Atomwaffen des Iran – wird es nichts ändern. Doch wen stört’s?

Das Grass-Gedicht (Auszug)

Zitat „Warum sage ich jetzt erst,/ gealtert und mit letzter Tinte:/ Die Atommacht Israels gefährdet/ den ohnehin brüchigen Weltfrieden?/ Weil gesagt werden muss,/was schon morgen zu spät sein könnte;/ auch weil wir – als Deutsche belastet genug –/ Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,/ das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld/durch keine der üblichen Ausreden/ zu tilgen wäre. (...) Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,/ mehr noch, allen Menschen (...) in dieser/ vom Wahn okkupierten Region (...)/ und letztlich auch uns zu helfen.“