Erstmals seit 60 Jahren fehlt Italien bei einer WM-Endrunde. Das Ende einer Ära? Nein, sagen zwei Ausgewanderte, die in ihrer Stuttgarter Wahlheimat alle Höhen und Tiefen des italienischen Fußballs miterlebt haben. Man müsse nur in die richtige Richtung blicken. Zum Beispiel: nach Senegal.

Stuttgart - omenico de Palma freut sich. Italien hat sich für die WM qualifiziert. „Die Frauen haben alle sieben Qualifikationsspiele gewonnen“, sagt er stolz. „Die haben sich gesagt: Wir müssen den Männern zeigen, wo’s langgeht.“ Der 76-Jährige aus Möhringen verfolgt alles, was sich im Fußball rührt, referiert die erfolgreiche Bilanz der Nationalelf der Behinderten, erzählt vom just vollendeten Kleinfeld-Meisterstück seines Heimatvereins in den Abruzzen. In diesen Tagen aber lasten seine Hoffnungen auf einem einzelnen Torhüter. Nicht etwa Torwartidol Gianluigi Buffon hat es de Palma angetan, sondern ein gewisser Alfred Gomis: 24 Jahre jung, in der Serie A bei SPAL Ferrara unter Vertrag und während der WM die Nummer drei im Tor des Senegal. „Durch ihn ist Italien in Russland vertreten“, sagt de Palma lachend. Gomis hat auch einen italienischen Pass.

 

Gemächlich führt de Palma über das Vereinsgelände von Arces Stuttgart, dem italienischen Kultur- und Sportclub, dem er seit einem halben Jahrhundert vorsteht. In Jogginghose und weißem Trainingsanzug sieht er ein bisschen aus wie ein Trainer im Ruhestand, ein altersgelassener Signor, der alle Höhen und Tiefen miterlebt hat.

Auf dem Schotterplatz von Arces wird schon seit fast zehn Jahren kein Fußball mehr gespielt. Einst war er die Heimstätte der Abteilung Calcio. Auch deren Aushängeschild damals: die Frauen. „Die haben es von ganz unten bis in die Regionalliga geschafft“, sagt de Palma. Dann kam ein Beschluss vom Verband: Die Damen durften nicht mehr auf Hartplatz spielen. Fortan blieben die Kabinen unbenutzt, verfielen. Seit einiger Zeit wird renoviert, nächstes Jahr soll der Ball wieder rollen. Derzeit trainiert noch eine Boule-Truppe zwischen den Fußballtoren, ab und zu eine aus Exil-Sri-Lankern bestehende Cricketmannschaft.

WM-Reise durch die Jahrzehnte: „Schnellinger vergisst niemand!“

Wer sucht, findet hier reichlich Metaphern für den Zustand des italienischen Fußballs. In den Hinterräumen des Vereins, neben einer modernen Boccia-Bahn, steht auf ausrangierten Tischen und defekten Kühlschränken ein Sammelsurium von Fußballpokalen. Eine Staubschicht hat sich auf sie gelegt. Der älteste datiert aus dem Jahr 1968, als Arces die italienische Baden-Württemberg-Liga gewann und Staatspräsident Saragat eine riesige Trophäe stiftete. Die jüngste Ehrung: ein unscheinbarer Bronzeaufsteller aus dem Juli 2007. Dritter Platz bei einem Turnier in Ostfildern. Errungen, natürlich, von den Frauen. Carmela Cocci, de Palmas Frau und ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied, findet eine weitere Analogie: „Wenn die Politik durcheinander ist, herrscht auch im Fußball Chaos“, sagt die Neapolitanerin. „Die jungen Leute wissen nicht mehr, wo sie stehen sollen: links, rechts, Mitte?“ Andersrum ließe sich behaupten: Die Politik eifert dem Fußball nach. Zuletzt blieb der Präsidentschaftssitz des italienischen Verbands monatelang vakant. Man konnte sich auf keinen Kandidaten einigen.

Auf der von Linden gesäumten Terrasse des Vereinslokals läuft ein WM-Vorrundenspiel. Mit dem Rücken zum Fernsehschirm sitzend, kommen Cocci und de Palma ins Erzählen. Wo sind die besseren Zeiten? Gern erinnern sie sich an 2006. Nachdem Italien im Halbfinale Gastgeber Deutschland ausgeschaltet hatte, fuhren die Eheleute zum Endspiel auf den Schlossplatz. Beim Public Viewing mit den noch ernüchterten Deutschen erlebten sie die dramatische Weltmeisterkür ihrer Mannschaft im Elfmeterschießen. „Erst war alles still“, sagt Cocci, „aber dann haben wir angefangen zu singen, und am Ende haben wir mit den Deutschen zusammen gefeiert.“

De Palma reist noch weiter durch die Jahre. Zum „Spiel aller Spiele“, wie er es nennt. WM 1970 in Mexiko, Italien gegen Deutschland vor 102 000 Zuschauern im Aztekenstadion. Bis zur 90. Minute führten die Italiener mit 1:0. De Palma war 28, verfolgte das Spiel in Deutschland gebannt vor dem Fernseher. Sekunden vor Schluss erzielte Karl-Heinz Schnellinger den Ausgleich. „Ausgerechnet Schnellinger“, rief ARD-Reporter Ernst Huberty – ausgerechnet der einzige in Italien spielende Deutsche. „Dieser Schnellinger!“, stöhnt de Palma noch heute und nennt ihn in einem Atemzug mit Diego Maradona: „Den vergisst niemand!“ Am Ende siegte Italien mit 4:3 nach Verlängerung.

2018 wird die deutsch-italienische Rivalität jenseits des Platzes ausgetragen werden müssen – spätestens bis zur WM der Frauen im kommenden Jahr. Unterdessen dürften viele der 14 000 Stuttgarter Italiener der deutschen Elf die Daumen drücken. Und de Palma und Cocci? „Die Besten sollen gewinnen“, meint Cocci unverbittert. De Palma fügt hinzu: „Wäre toll, wenn ein Außenseiter es schafft.“ Unwahrscheinlich, aber Italiener müssen momentan träumen können.

„Vielleicht ja Senegal!“, ruft de Palma und schüttelt sich vor Lachen. Dann wäre Italien doch ein bisschen Weltmeister.