Jagoda Szmytka hat für das Eclat-Festival ein Performance-Stück über die „Generation Y“ komponiert. „DIY or DIE“ sprengt die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit.

Stuttgart - Im letzten Sommer hat Jagoda Szmytka zwei Wochen lang in einer Hütte gewohnt. Mitten in Frankfurt, zwischen Zeil und Bankenviertel. Das, denkt man, ist keine Kunst, eher ein wenig skurril. Einen Kunstanspruch hatte das Leben dort allerdings: Um „Gesellschaftsspiele mit Kultur“ geht es dem Projekt „Play“, das die 34-Jährige gemeinsam mit Gleichgesinnten ins Leben gerufen hat. Und so hat Szmytka auch dort versucht, Kunst im öffentlichen Raum neu zu erfinden. Erst gab es eine Performance, dann folgte es etwas, das sie als „Real Life Performance“ bezeichnet: Mehr als tausend Menschen seien da in ihre Hütte gekommen, hätten sich zu täglich wechselnden Themen geäußert, und an dem Tag, an dem es um „Storytelling“, also um Geschichtenerzählen, ging, sei ein Mann im Anzug gekommen, ein Bänker. Der sei zwei Stunden bei ihr geblieben, habe „zehn Seiten oder mehr“ vollgeschrieben und sie dann gebeten, seinen Brief abzuschicken: Lange schon habe er diesen schreiben wollen und es doch nie übers Herz gebracht.

 

„Genau hier“, sagt Jagoda Szmytka, „liegt für mich die Wirkung und die Aufgabe von Kunst in der Gesellschaft. Ein Künstler bietet einen geschützten Raum an, öffnet sich – und dann kann etwas passieren. Dann kann sich etwas verändern.“ Womöglich ist das sogar in einem Ein-Euro-Laden der Fall. Da fand neulich auch eine „Play“-Performance statt. „Ich will niemanden zwingen, zu mir zu kommen, ich gehe lieber hin zu den Menschen“: Das sagt die Polin, die sich heute vor allem als Frankfurterin fühlt, die Komponistin, die auch Philosophie und Kunstgeschichte studiert hat und die in den letzten Jahren immer mehr auch zur Performerin geworden ist.

Das schwarze Schaf in Wolfgang Rihms Klasse

„Soziales Komponieren“ nennt Szmytka ihren Umgang mit Kunst und Wirklichkeit. An diesem Umgang, an dieser Form, sagt sie, könne man ihre Werke weit eher erkennen als an irgendeiner Art von musikalischem Personalstil. Komponieren als Handwerk hat sie beim Lachenmann-Schüler Pierluigi Billone, bei Beat Furrer und bei Wolfgang Rihm im Studium gelernt – „aber da war ich – oh my god! – oft das schwarze Schaf“. Im Übrigen wolle „Play“ vor allem das sein, was sein Titel verrate: ein Spiel. Also auch der Versuch, Regeln und Strukturen (nein, keine Dogmen, keine Ideologien) für die Gemeinschaft neu zu erfinden.

Jetzt ist Jagoda Szmytka in Stuttgart. Seit September arbeitet sie nicht nur an ihrem Auftragswerk für das Eclat-Festival im Theaterhaus, sondern sie lebt auch dort: einerseits als bescheidener Mensch („Ich habe schon in vielen Studios geschlafen“), andererseits aber auch als ziemlich bunter Paradiesvogel, der am allerliebsten über der eigenen Kunst seine Kreise zieht. Donnerstag, also am ersten Festivalabend, wird ihr „DIY or DIE“ uraufgeführt, ein Stück, das im Programmheft als „Vaudeville-Revue“ bezeichnet wird. Um zu verstehen, warum und wie hier das „Do it yourself“ (DIY) gegen das Sterben (DIE) ausgespielt wird, muss man sich ein wenig mit der Generation beschäftigen, der die Komponistin angehört und die sie hier auch porträtieren will. Von den „Millennials“ spricht Szmytka selbst; bezeichnet wird die Ära der zwischen Ende der 1970er und Ende der 1990er Jahren geborenen ersten Digital Natives auch als „Generation Y“.

Sinnsucher in einer grenzenlos gewordenen Welt

Selbstbestimmt sind jene, die ihr angehören, selbstbewusst, manchmal auch ein bisschen selbstverliebt. Sinnsucher in einer grenzenlos gewordenen Welt, aufgewachsen mit den glanzpolierten (Schein-)Wirklichkeiten des Internets und von dessen sozialen Netzwerken auf permanente Selbstdarstellung gedrillt. Individualisten, flexibel, ständig im Wandel. Dabei auch – eine Kompensation der ausgeprägten Ichbezogenheit? – auf der Suche nach Regeln und Nachhaltigkeit, nach Überwindung der eigenen Einsamkeit.

Neben Jagoda Szmytka gehören unter den Komponisten etwa auch Simon Steen-Andersen oder Jennifer Walshe den „Millennials“ an. Sie verbindet die Lust an der Selbstverwirklichung durch Kunst, am Aufbrechen von Genres – und an der Neudefinition von Komposition als einer zusammengesetzten, offenen Kunstform, die (zumindest in Teilen) auch während ihrer Darbietung entsteht und bei der sie liebend gerne selbst dabei sind oder gar als Performer im Mittelpunkt stehen. Die Hälfte des diesjährigen Eclat-Programms besteht aus derart experimentellen, genreübergreifenden Werken, die alles Frontale und Lineare abgelegt haben.

Pop, Punk, Hip-Hop, Techno und ein Wiegenlied

So ist „DIY or DIE“, das formal auch eine Reverenz an Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ ist, die fünfteilige Selbstreflexion einer Generation. In „The Wall“ (Teil eins) geht es um eine Mauer, um die Überwindung der individuellen Verlorenheit, „Millennials“ beschreibt Blessuren der Leistungsgesellschaft, „Lullaby“ die Sehnsucht nach körperlicher Berührung und Nähe, „on Top“ jene nach körperlicher Schönheit, und „RIOT“ fordert abschließend, mit der heute errungenen Freiheit sozial verantwortungsvoll und sinnstiftend umzugehen. Dazu erklingt Musik, die Anteile von Pop hat, von Punk, Hip-Hop und Techno. Ein Wiegenlied ist auch dabei.

Außerdem hat Jagoda Szmytka zu jedem Teil ihres Stücks einen „Satelliten“ im wahren Leben konzipiert. „Real-Life-Extensions“ nennt sie diese zeitversetzt präsentierten Events. So sind mit der Bühnen-Aufführung von „DIY or DIE“ ein Konzert auf dem Dach des Bülow-Towers verbunden, die Exkursion in eine Paintball-Halle, eine Umarmungs-Aktion und eine Schmink- und Fotokabine im Theaterhaus. Kunst und Wirklichkeit sollen ebenso ineinander greifen wie Privates und Öffentliches, Anspruch und Triviales, Ironie und Wahrhaftigkeit.

Manchmal sind die Trennlinien kaum auszumachen – ganz wie in der virtuellen Wirklichkeit, mit der die „Millennials“ aufgewachsen sind. Außerdem: „Warum nicht auch mal eine Kunst vorführen, die einfach Spaß macht?“, fragt Szmytka – und verschwindet, um Neues an- und auszudenken. Und hält dann doch noch kurz inne. „Wie lange ich das noch so extrem machen werde? Oh my god, das weiß ich wirklich nicht!“

Das Festival Eclat beginnt an diesem Donnerstag im Theaterhaus. „DIY or DIE“ steht um 21.30 Uhr auf dem Programm.