Rechtzeitig zur EM ist Jean-Philippe Toussaints Buch „Fußball“ auf Deutsch erschienen: Kaum jemand hat je so begeisternd und begeistert über das geschrieben, was dieser Sport in seinen dramatischsten Minuten mit uns macht.

Stuttgart - Es gibt eine Zeit inmitten unserer modernen Empfindung von Kurzlebigkeit, Gehetze und ökonomischer Effizienz, die mit den üblichen Instrumenten nicht zu messen ist, die herausfällt aus unseren Routinen, die in einem anderen Rhythmus zu vergehen scheint. Und die auch uns selbst in einen anderen Zustand versetzt, uns mitten hinein bringt ins Jetzt. Diese Zeit beginnt mit dem Anpfiff eines Fußballspiels und endet, wenn der Schiedsrichter nach 90 Minuten abpfeift. Über die perfekte Übereinstimmung zwischen dem laufenden Spiel und der gleichzeitig vergehenden Zeit, über das Glück der Regression, über die Vergänglichkeit und die Leidenschaft für den Fußball hat der belgische Romancier und Essayist Jean-Philippe Toussaint nun ein Buch geschrieben. „Nichts kann uns geschehen, während wir ein Fußballspiel betrachten“, räsoniert er darin. Während wir einem Spiel beiwohnen, halte der Fußball uns radikal auf Distanz zum Tod. Beim Zuschauen – reine Unmittelbarkeit – werden wir mit einer Art „metaphysischen Wohlbefindens“ beschenkt. Und so ist es auch nicht verwunderlich, wenn Toussaint gesteht: „Ich tue so, als schriebe ich über Fußball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt.“

 

Ein wundervoller literarischer Essay

„Fußball“, 2015 im Original und nun in der Übersetzung von Joachim Unseld rechtzeitig zur Europameisterschaft in Frankreich auf Deutsch erschienen, ist ein wundervoller literarischer Essay, der sich um keine Konvention des Genres Fußballbuch schert. Wie ein genialischer Spieler schlägt Toussaint Flanken in den freien Raum, folgt seinen Eingebungen, die ihn von den Tribünen diverser Fußballstadien zurück in die Kindheit führen, in die Einsamkeit und Stille des Schreibens, ins anekdotische Erinnern. Wer ernsthaft über Fußball nachdenkt, kommt unweigerlich im Innersten seiner Selbst an, geht den Gefühlen nach, die in der stillgestellten Zeit eines Spiels aufgewühlt werden. Man darf von Toussaint deshalb weder Spielanalysen erwarten noch Reflexionen über die gesellschaftliche Relevanz des Fußballs. Auch sollte man nicht glauben, dass er die Geheimnisse dieses Sports wirklich lüftet – er möchte es auch gar nicht. Toussaints Buch handelt vom Fußball insofern als es mit seinem Schreiben zu tun hat. Es geht in klugen und poetischen Wendungen um die Fantasien, die dem Schriftsteller ebenso wesenhaft sind wie dem Fan; und der Text spricht vom Entzücken und der Melancholie, die jedem Satz und jedem Pass innewohnen können. Kleine Beobachtungen reihen sich aneinander; immer wieder tritt Toussaint einen Schritt zurück, versucht seinen Gegenstand von sich wegzurücken, um ihn neu fassen zu können, ohne sein faszinierendes Rätsel aufzulösen.

Alle Hoffnung hängt am Transistorradio

Strukturiert wird das Buch – und das Leben des Fußballfans – von den alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften. 1998 besucht Toussaint zum ersten Mal ein Weltmeisterschaftsspiel. Den Sommer 2002 verbringt er in Japan, ergattert Tickets für diverse Spiele. „Von da an, über die ganze Länge des Turniers hinweg, wiegt der Fußball unsere Stunden, gibt unserem Leben den Rhythmus, eine besondere Betonung, einen Akzent, die Interpunktion, und begleitet es aus der Entfernung wie eine Sommersonne, deren Vorhandensein man irgendwann nicht mehr wahrnimmt, so gleichförmig sind ihre Wohltaten, so regelmäßig ihre Rendezvous, die sie mit uns trifft.“

Nur 2014, nach einer persönlichen Krise, will er von Fußball nichts wissen: Die Weltmeisterschaft in Brasilien findet ohne ihn statt. Toussaint verbringt die Sommerwochen zusammen mit seiner Frau auf Korsika, schreibend, von der Welt abgeschlossen – ein Rückzug in die Literatur. Aber der Entzug funktioniert nicht, der Widerstand wird gebrochen; erstmals meldet er sich bei einem Streamingdienst an, um die Spiele aus der Ferne auf seinem Arbeitscomputer mitverfolgen zu können. Er sieht das Halbfinale zwischen den Niederlanden und Argentinien, aber die Technik macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Das Bild hängt sich immer wieder auf, und als schließlich ein Unwetter aufzieht, ausgerechnet in dem Moment, als das Elfmeterschießen beginnen soll, wird der Stream unterbrochen. Das alte Radio in der Küche bringt das Geschehen in Sao Paulo nur für kurze Zeit zurück. Eine Stromstörung kappt auch diese Verbindung. Im Dunkeln sucht er nach seinem batteriebetriebenen Transistorradio. Und siehe da, eine italienische Stimme meldet sich schließlich aus dem tausende Kilometer entfernten Stadion. „Jetzt, in genau diesem Moment konnte mir nichts mehr passieren, weder ein Stromausfall noch eine unterbrochene Internetverbindung, höchstens ein plötzlicher Totalausfall der Batterien des Transistorradios hätte mich um diese allerhöchste Spannung bringen können“.

Was der Fußball mit uns macht

Kaum jemand sonst hat je so begeisternd und begeistert über das geschrieben, was der Fußball in seinen dramatischsten Minuten mit uns macht: Er ergreift uns mit aller Macht, lässt die Welt um uns gänzlich verschwinden, macht uns zu Komplizen eines Geschehens, das in seiner zwecklosen Schönheit eine ähnlich transzendente Erfahrung ermöglicht wie die Literatur. Toussaints Buch handelt eigentlich von der Magie des Augenblicks, die für Sekunden die Sinnlosigkeit des Todes bannt.

Jean-Philippe Toussaint: Fußball. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2016. 126 Seiten. 17,90 Euro.