Man könnte Jeffrey Eugenides' neuen Roman als klassische Dreiecksgeschichte bezeichnen – und hätte damit ebenso Recht wie Unrecht.

Stuttgart - Man könnte es als Dreiecksgeschichte nach klassischem Muster bezeichnen - und hätte damit ebenso viel Recht wie Unrecht. Drei Leute Anfang zwanzig, zwei Männer, eine Frau, sind verbunden, ja, aneinander gefesselt durch Gefühl und Begehren, große Erwartungen, (Selbst-)Überredung, kurz, die Liebe in ihren Spielarten. Jeffrey Eugenides lässt es nicht dabei bewenden, die alte Geschichte vom Jüngling, der ein Mädchen liebt, das einen andern erwählt hat, neu zu erzählen. Der US-Autor, der Anfang des Jahrtausends mit seinem zweiten Roman "Middlesex" international Furore machte, indem er die Familiengeschichte griechischer Einwanderer mit einer kühn angelegten Gender Story verband, macht vom ersten Satz an klar, dass es ihm um mehr und anderes geht: "Zunächst mal, schauen Sie sich all die Bücher an", lautet der.

 

"Die Liebeshandlung" ist der Titel der deutschen Übersetzung. Das passt einerseits sehr gut, weil die drei frischgebackenen Absolventen des Colleges in Providence, Rhode Island - die hübsche Madeleine Hanna aus wohlhabendem Ostküsten-Elternhaus, der leicht gehemmte Mitchell Grammaticus und der hochbegabte, attraktive Leonard Bankhead - die Liebe und alles, was damit zusammenhängt, durchleben, die ganze Lust und den ganzen Schmerz. Andererseits lässt der Originaltitel "The Marriage Plot" viel stärker bestimmte Glocken in den Hirnen englischsprachiger Leser klingen. Der "marriage plot" ist das, was in Jane Austens Romanen und derer, die nach ihr kamen, dazu führt, dass die füreinander bestimmten, "passenden" Männer und Frauen nach einigem Hin und Her zueinanderfinden und heiraten - ein literaturwissenschaftlicher Grundbegriff. Wer seinen Roman so nennt, rechnet mit nicht nur literarisch, sondern literarhistorisch informierten Lesern.

Mädchen mit zeittypischem Identitätsknacks

Die "Liebeshandlung" spielt Anfang der achtziger Jahre, als die Damenmode die Schulterpolster wiederentdeckte, und Jacques Derrida, Julia Kristeva, all die Theoriegötter des Poststrukturalismus, des Feminismus und diverser anderer postmoderner Ismen die Hirne der Studenten diesseits wie jenseits des Atlantiks tsunamihaft überschwemmten: "Beinahe über Nacht wurde es lächerlich, Cheever oder Updike zu lesen, Schriftsteller, die über das Vorstadtmilieu schrieben, in denen Madeleine und die meisten ihrer Freunde aufgewachsen waren. Besser, man las de Sade, der über die anale Defloration von Jungfrauen im Frankreich des 18. Jahrhunderts geschrieben hatte." Madeleine, die Englisch als Hauptfach gewählt hat, weil sie Bücher liebt, fühlt sich hingezogen zu "den Hipstern, die hinten im Gang Maurice Blanchot lasen". Im Kurs Semiotik 211 trifft sie Leonard, dessen Hauptfächer eigentlich Biologie und Philosophie sind. Man rezipiert Handkes "Wunschloses Unglück", und Eugenides lässt sich die Gelegenheit zu einigen lustig selbstreferenziellen Wortwechseln nicht entgehen: "In Büchern geht es nicht ums wirkliche Leben. Bücher sind Bücher über andere Bücher."

Das aufgeweckte, hübsche Mädchen mit dem zeittypischen Identitätsknacks, das sich irgendwann aus Beziehungsfrust einen Haarschnitt wie Annie Lennox hat verpassen lassen, verliebt sich in den scheinbar so überlegenen Typ mit den abgefahrenen Klamotten und Gewohnheiten (Polarstiefel, Sicherheitswesten, Kautabak). Die Gespräche sind tiefsinnig, der Sex ist kosmisch, Leonard einfühlsam wie kein anderer ihrer bisherigen festen Freunde - und, wie sich herausstellt, manisch-depressiv. Dennoch will Madeleine mit Leonard zusammenleben und begleitet ihn an eine komfortabel ausgestattete Forschungseinrichtung, an der er als Stipendiat die Mutationsbereitschaft von Hefezellen untersuchen soll.

Fast kommt es zum Untergang der Heldin

Für Mitchell dagegen, der sie seit dem ersten Collegejahr anschmachtet und in den Augen ihrer Mutter viel vom idealen Schwiegersohn hätte, hat Madeleine allenfalls freundschaftliche Gefühle übrig. Als er nach dem Abschluss gen Paris und weiter nach Asien aufbricht, schreibt sie ihm einen final gemeinten Abschiedsbrief, aus dem er vor allem schließt, dass er seinen lang gehegten Plan, sie irgendwann zu heiraten, keineswegs aufgeben muss. Gleichzeitig wird in Indien sein bis dato eher theoretisch-philosophisches Interesse an theologischen Fragen nach einem religiösen Erweckungserlebnis ganz praktisch: Er landet schließlich in Kalkutta, wo er (wie sein Autor es als junger Mann tat) bei der Schwesternschaft von Mutter Teresa die Moribunden pflegt, bis er es nicht mehr aushält und die Flucht ergreift.

Dass Madeleine unterdessen Leonard geheiratet hat, transponiert die Handlung, die ja zuvor gut auf ein Austen'sches Ende hätte hinsteuern können, in ein jüngeres Kapitel der Literaturgeschichte, den viktorianischen Roman á la Henry James, in dem es nach der gelungenen Eheschließung weitergeht mit Verwicklung, Desillusion, womöglich Untergang der Heldin wie in "Porträt einer Dame". Es kommt auch fast so weit, bis Leonard in einer ergreifenden Szene Madeleine buchstäblich in die Freiheit zurückstößt.

Virtuaos gepinseltes Zeitkolorit

Nun könnte Mitchells Stunde schlagen. Aber er ist klug genug, Madeleine eine angemessenere Variante des "marriage plot" nahezulegen. Und so kann der Roman trotz allem - und sehr überraschend- enden mit dem Wörtchen "Ja"...

Dass Jeffrey Eugenides mit seinem ein Jahr älteren Kollegen Jonathan Franzen befreundet ist und in intensivem Austausch steht, glaubt man bei Lektüre seiner Bücher gern. Die zeitversetzten Parallelen zwischen den beiden Autoren, der eine in Chicago, der andere in Detroit gebürtig, sind fast schon komisch: im Jahr nach Franzens "Korrekturen" landete Eugenides mit "Middlesex" einen exemplarischen Bestseller-Erfolg, jetzt erscheint kurz nach dem amerikanischen Original "Die Liebeshandlung", ebenso fix übersetzt wie im vergangenen Jahr Franzens "Freiheit".

Wichtiger aber ist die Tatsache, dass für beide der Roman das Mittel ist, "tief zu bohren" (um Madeleines Kindheitsvokabel für grüblerische Freundinnengespräche zu verwenden) und zugleich - selbstverständlich intelligent! - zu unterhalten. Beide verhehlen den Umstand, viel gelesen zu haben, ebenso wenig wie den Ehrgeiz, in Bildern der vom Zerbrechen bedrohten Familie und des gefährdeten, von so feinen Dingen wie Freiheit, Aufklärung und Verantwortungsgefühl überforderten Individuums etwas über ganze Gesellschaftsformen zu sagen. So ist es auch in der "Liebeshandlung": Der Roman nimmt für sich ein mit virtuos gepinseltem Zeitkolorit, redet - wie Jane Austen- viel und fast satirisch vom Geld und würzt die Liebesgeschichte mit ordentlichen Prisen Campus Novel. Am Ende aber erforscht er, wo die Wurzeln unseres Denkens und Fühlens liegen.

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek. 624 Seiten, 26,95 Euro.

Der Autor liest am 8. November im Literaturhaus Stuttgart und unterhält sich mit Denis Scheck.