Deutschlandpremiere: die Stuttgarter Staatsgalerie zeigt das Werk John Constable. Erstmals wird sein Schaffen hierzulande umfassend gewürdigt.  

Stuttgart - In England kennt jedes Kind John Constable. Seine Landschaften zieren Pralinenschachteln und Porzellanteller. In Deutschland dagegen weiß man nicht viel von dem Engländer. Kaum eine Sammlung besitzt Werke des Malers, eine monografische Schau hat ihm hierzulande noch kein Museum gewidmet. Sean Rainbird, der Direktor der Staatsgalerie, vergleicht ihn darum mit dem etwas jüngeren Deutschen Adolph Menzel: daheim eine Art Nationalheld, im anderen Land ein unbeschriebenes Blatt. Die Ausstellung "John Constable - Maler der Natur", eine Übernahme aus dem Londoner Victoria and Albert Museum, ist also tatsächlich eine Deutschlandpremiere. Erstmals bietet sich uns Kontinentalen die Gelegenheit, mit Constable nähere Bekanntschaft zu machen.

 

Man begreift schnell, warum die mangelnde Popularität dieses englischen Romantikers, den Kollegen wie Corot, Manet oder die Barbizon-Adepten doch so verehrten, ihre Ursache zum Teil im Werk selbst hat. Denn Constables Medium ist nicht das große, repräsentative Ölgemälde - obwohl er auch die in ausreichender Menge fabrizierte -, sondern die kleine, auf den ersten Blick bescheidene Ölskizze. Nun wäre das kleine Format allein noch kein Grund, ihn zu übersehen, denkt man etwa an Spitzweg, der es mit Zwergenbildern zum Beliebtheitsriesen gebracht hat. Constables Kunst ist jedoch völlig pointenlos, ihr fehlt alles Anekdotische. Ebenso viel trennt ihn von der Gedankenkunst eines Caspar David Friedrich. Und er ist auch kein Europäer wie sein Landsmann William Turner.

Porträts vertrauter Landschaft

Constable war ein "britischer Brite" - so bezeichnet ihn Sean Rainbird -, einer, der nicht gern reiste. Nie hat er einen Fuß außer Landes gesetzt, und selbst ein zweimonatiger Malaufenthalt im pittoresken Lake District schlug ihm aufs Gemüt. Den in Stuttgart gezeigten Aquarellen aus Borrowdale von 1806 - zwei aus einer ganzen Mappe von Ansichten der Gegend im Nordwesten Englands - meint man seinen Missmut anzusehen. So virtuos die nebelverhangenen Hügel eingefangen sind, so melancholisch wirken die braungrauen Farben.

Constable wollte nur eins: die vertraute Landschaft seiner Kindheit und Jugend porträtieren, die Wiesen und Felder von Suffolk nordöstlich von London, die Umgebung seines Geburtsorts East Bergholt. Und er wollte eine möglichst "ursprüngliche und unaffektierte Manier" finden, wie er in einem Brief schrieb, die sich von mächtigen Vorbildern wie Lorrain oder Ruisdael befreite. Er wollte ein "natural painter" sein, ein Naturmaler.

Undramatische Bilder

Dafür zog er mit Pinsel und Farben hinaus ins Freie - Jahrzehnte vor den Impressionisten. Es entstanden gänzlich undramatische Bilder urenglischer Landschaften, von Feldwegen, Kirchtürmen, Kühen, Wolken und "erschreckenden Mengen unbearbeiteter Erde", wie es im Erläuterungstext zur "Windmühle bei Brighton" (1824) heißt. Constable interessierte sich für meteorologische Phänomene und die Wirkung des Lichts im Wechsel der Jahreszeiten, notierte am Bildrand Wetterbedingungen und Tageszeit. Manchmal fangen die Himmel an zu brodeln, türmen sich graue Wolkengebirge auf, aus denen mit Weiß hineingemalte Sonnenstrahlen hervorbrechen. Nie aber weisen Constables Landschaften über sich selbst hinaus ins Symbolische. In ihnen ist die "Natur auf frischer Tat ertappt", wie ein englischer Kritiker Ende des 19. Jahrhunderts schrieb.

Zu Ausstellungszwecken waren diese Skizzen nicht bestimmt. Das unterscheidet Constable von einem nachgeborenen Kollegen wie dem vor zwei Jahren bei Würth in Schwäbisch Hall ausgestellten David Hockney, der seine Leinwände immer direkt vor den Wäldern Yorkshires aufbaut und sie dann im Atelier zu mehrteiligen Monumentallandschaften zusammensetzt. Constable hatte kein Transportfahrzeug zur Verfügung, er brauchte handlichere Formate. Er benutzte grob zugeschnittene Pappe, oft kaum mehr als postkartengroß, häufig auch Leinwandfragmente ausrangierter Gemälde, die er auf sein Skizzenbrett oder seine Schachtel mit den Malutensilien heftete. Man erkennt Umschlagkanten, Nagellöcher, schadhafte Stellen (im Regenbogenbild von 1809), schiefe und ausfransende Ränder - alles unbekümmert übermalt.

Perfektion ist kein Kriterium

Doch Constable war keine Ein-Mann-Sezession, auch wenn er mit der traditionellen Landschaftsmalerei brach. Auf die Anerkennung durch den britischen Kunstbetrieb legte er größten Wert. Seine Skizzen arbeitete er - zum Teil erst nach Jahren - im Atelier zu Großformaten aus, den Six-Footers, Gemälden von knapp zwei Metern Breite, die in der Royal Academy ausgestellt wurden. Zwei solcher Hauptwerke, "Der Heuwagen" in einer größengleichen Skizze von 1821 und "Das springende Pferd" (1825), beide frisch restauriert, hängen jetzt in Stuttgart. Seit an Seit mit den zugehörigen Landschaftsstudien und großformatigen Skizzen wie hier sind sie wohl auch für englische Augen selten zu sehen.

Im Vergleich mit den kleinen Aquarellen und Ölskizzen fehlt es den Six-Footers in ihren schweren Goldrahmen aber an Spontanität, an der Ungezwungenheit, die sich um künstlerische Konventionen nicht schert. Neben der lockeren Skizze des "Springenden Pferds" wirkt das gleichnamige Gemälde auskomponierter, keine Frage, aber auch konstruierter, gefälliger.

Perfektion ist für heutigen Geschmack kein Kriterium mehr. Blätter wie die zarten "Zirruswolken" (1821/22) oder die mit wirbelndem Strich gemalten späten Aquarelle sprechen die meisten Besucher gewiss mehr an als die gefeierten englischen Schokoladenbilder, und am meisten da, wo sich Constable am weitesten von der gegenständlichen Landschaftsmalerei entfernt. Zu dem fast abstrakten, grünblauen Aquarell von "Hampstead mit Blick auf London" (1833) schreibt er: "Unser Wohnzimmer hat einen Blick, wie es ihn in Europa kein zweites Mal gibt ... Die Kuppel von St. Paul in der Luft

Freilichtmaler

Biografie: John Constable wurde 1776 in East Bergholt in der englischen Grafschaft Suffolk als Sohn eines wohlhabenden Mühlenbesitzers geboren. In einer Londoner Ausstellung fällt ihm seine stilistische Nähe zu Gainsborough auf. Er schließt daraus, dass er sich zu stark an der Kunst orientiert und die wirkliche Erscheinung der Natur vernachlässigt. Um ein „Naturmaler“ zu werden, fertigt er ab 1808 eine Serie von Studien im Freien an. Später wird ihm klar, dass er mit großen Kompositionen in der Öffentlichkeit größeren Eindruck machen kann. 1837 stirbt Constable in London.

Termine: Die Ausstellung „John Constable – Maler der Natur“ ist bis zum 3. Juli in der Staatsgalerie zu sehen. Geöffnet: 10–18 Uhr, Di und Do 10–20 Uhr, Mo geschlossen.

Rahmenprogramm: www.staatsgalerie.de