Der Dichter Joseph Roth als erfolgreicher Journalist: seine Reportagen aus Osteuropa, geschrieben in den zwanziger Jahren für die „Frankfurter Zeitung“, liegen jetzt als Buch vor – und zeigen Roth als hellsichtigen Chronisten des Epochenwechsels in Russland.

Stuttgart - Joseph Roth, der Autor der Romane „Hiob“ und „Radetzkymarsch“, ist in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein erfolgreicher Journalist gewesen. Er gehörte zu den bestbezahlten freien Reportern der „Frankfurter Zeitung“. In ihrem Auftrag reiste er im Herbst 1926 durch die junge Sowjetunion, die im November den neunten Jahrestag ihrer bolschewistischen Revolution feierte. Obwohl Roth mit der Linken sympathisierte, hatte er sich vorgenommen, keine ideologischen Berichte zu liefern, sondern den Alltag der Menschen unter die Lupe zu nehmen, und so brach er mit einer Art vorurteilsloser Skepsis in die Sowjetunion auf.

 

Die Reportagen, die unter dem Titel „Reise in Russland“ von Herbst 1926 bis Februar 1927 in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen sind, schildern mit großem Respekt die Anstrengungen zur Bildung der Bevölkerung und zur Industrialisierung des Landes. Die Gesetze des jungen Staates werden gelobt und die Autonomie der verschiedenen Völker hervorgehoben. Sehr amüsant beschreibt Roth das Völkergewirr im Kaukasus und staunt darüber, wie es den Kommunisten gelang, all diese rebellischen Völker zu befrieden: „Die Verleihung der nationalen Autonomien war auch eine politische Klugheit. Denn: was lernen heute die neuen Nationen in ihren neuen nationalen Lehrbüchern? – Die Geschichte und den Ruhm der Revolution. Nationalgefühl und kommunistische Weltanschauung sind bei der Jugend der meisten kaukasischen Völker beinahe synonyme Begriffe.“

Stalin und die Zwangskollektivierung

Das war nun leider, wie wir heute wissen, eine Momentaufnahme von 1926, als die Sowjetunion erst vier Jahre alt war und noch Aufbruchsstimmung herrschte. Die größte Errungenschaft sah Joseph Roth, der stets mit den Unterdrückten sympathisierte, in der Befreiung der russischen Bauern. Er beobachtete, wie in der Landwirtschaft durch den Einsatz von Traktoren die Ernten verbessert wurden, und er sah, hellsichtig wie so oft, genau an diesem Punkt das kommende Problem: Der Bauer, der seine Erträge steigern konnte, hatte kein Interesse mehr, sich als Teil des landwirtschaftlichen Proletariats zu begreifen. Und tatsächlich: nur zwei Jahre nach Roths Russlandreise griff Stalin ein und verordnete die Zwangskollektivierung.

„Reisen in die Ukraine und nach Russland“ heißt das schmale Buch, in das der Marbacher Literaturwissenschaftler Jan Bürger nun auch frühere Reisereportagen von Joseph Roth aus Polen aufgenommen hat. Denn zu Polen gehörte in den zwanziger Jahren ein Teil der Ukraine ebenso wie Roths alte Heimat Galizien. 1924 fuhr Roth nach Lemberg, der früheren Hauptstadt Galiziens. Immer noch war hier neben Polnisch auch Deutsch und Jiddisch sowie Ruthenisch, also Ukrainisch, zu hören. Was aber im alten Habsburgerreich selbstverständlich war, wurde im neuen Polen zum Problem, wie der Journalist bei seinem Besuch konstatieren musste: „Gegen diese Vielsprachigkeit wehrt sich das neugestärkte, durch die jüngste Entwicklung der Geschichte gewissermaßen bestätigte polnische Nationalbewusstsein – mit Unrecht. Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer.“

Ein Volk, verteilt auf vier Staaten – geht das gut?

Während die deutsche und jüdische Minderheit in Polen still hielt, rebellierten die Ukrainer. Explizit beklagte Roth die Tatsache, dass man gerade ihnen nach dem Ersten Weltkrieg keinen eigenen Staat zugestanden, sondern als Volk von dreißig Millionen Menschen auf vier Staaten aufgeteilt hatte. Die Westukrainer gehörten zu Polen, zur Tschechoslowakei und zu Rumänien, die Ostukrainer lebten in der Sowjetunion. Ihnen ging es damals offenkundig am besten, denn sie besaßen weitgehende Autonomie, und die Bauern waren nicht mehr den Großgrundbesitzern ausgeliefert wie jene im polnischen Staatsgebiet. So erlebte es Joseph Roth 1926. Im Wissen darüber, dass wenige Jahre später durch die Zwangskollektivierungen in der ukrainischen Sowjetrepublik eine Hungersnot ausbrach, die mehrere Millionen Tote forderte, ist diese Schilderung heute nur mit Beklemmung zu lesen.

Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jan Bürger. Beck-Verlag, München. 136 Seiten, 14,95 Euro.