Die kleine französische Gemeinde Seine-Port untersagt als erster Ort in Europa die Smartphones im öffentlichen Bereich. So möchte man Kinder und Jugendliche schützen.
Seine-Port liegt südlich von Paris und, wie sein Name sagt, an einem kleinen Hafen der Seine, die sich hier durch den äußersten Vorortgürtel der französischen Metropole schlängelt. Man sieht es dem beschaulichen Ort von 2000 Einwohnern nicht an, aber er hat etwas von dem berühmten gallischen Dorf, das gegen die römische Übermacht kämpft.
Übermacht? „Das sind Internetkonzerne wie Meta, bekannt für die Plattformen Facebook und Instagram“, sagt Bürgermeister Vincent Paul-Petit (64) in seinem Büro mit Sicht auf den Stadtpark. „Ihre Programmierer tüfteln ständig nach neuen Wegen, um Jugendliche in ihre Apps zu ziehen. Ihren eigenen Kindern untersagen sie allerdings den Bildschirmzugang, weil sie wissen, dass die Jüngsten dabei verdummen.“
Knappes Ergebnis bei der Volksabstimmung
Harte Worte von einem freundlichen Herrn: Der frühere Unternehmer war erstmals 2008 zum Bürgermeister von Seine-Port gewählt worden, er ist fünffacher Vater und achtfacher Großvater. Zum Schulbeginn im Herbst legte der Mann mit den festen Überzeugungen dann eine Charta „für einen guten Umgang mit den Bildschirmen“ vor.
Der resolute Bürgermeister kündigte eine kommunale Volksabstimmung zum Thema an. Die Abstimmung fand Anfang Februar statt und ergab 54 Prozent Ja-Stimmen; 46 Prozent waren dagegen. Darauf legte der Gemeinderat fest, wo es untersagt ist, sein Handy zu zücken: vor den Schulen, in den Geschäften, auf der Straße; in Gruppen auch im öffentlichen Raum, zum Beispiel im Verein.
Der Bürgermeister will keine Handys konfiszieren
Hört man sich heute in Seine-Port um, bleiben die Meinungen geteilt. Ein Vater, der sein Töchterchen begleitet, begrüßt das Verbot: „Wenn wir Eltern mit einem Handyverbot nicht allein gelassen werden, bin ich dafür.“ Der Gemüsehändler beim Eingang zum Stadtpark verdreht ablehnend die Augen, sagt aber nichts. Die Wirtin des Bistros „La Terrasse“ leistet Widerstand gegen den Widerstand: „Hier am Tresen verbieten wir das Handy nicht.“ Paul-Petit versteht die Einwände. Er macht klar, dass er „nicht den Gemeindepolizisten spielen und Handys konfiszieren“ werde. Sein Ansatz sei unpolitisch. Er selbst gehört den konservativen Republikanern an, bezeichnet sich aber als liberal. Zwei Nachbargemeinden, die von den Sozialisten und den Kommunisten regiert würden, dächten nun auch über ein Handyverbot nach, sagt er.
In der Sache aber ist der langjährige Dorfvorsteher unnachgiebig. In seinem Büro legt er mit Schwung drei Sachbücher auf den Tisch, eines trägt den Titel: „Wie man digitale Dummköpfe fabriziert.“ Die anderen behandeln Themen wie Videogewalt, Internetpornografie, Cybermobbing und raffinierte Lockmethoden der Game-Anbieter. „Handys sind eine wahre Droge für Kinder“, sagt Paul-Petit kategorisch.
Tipps von Psychologen und Neurologen
In der Abstimmungsbroschüre hat die Gemeinde Telefonnummern für Ratsuchende angegeben, dazu Tipps von Psychologen und Neurologen: bis drei Jahre gar keinen Bildschirm; bis sechs Jahre nur täglich eine Stunde, davon ein Drittel zusammen mit den Eltern; und ab zehn nicht mehr als 45 Minuten. Wohlgemerkt, das betrifft alle Bildschirme von Fernsehen, Smartphone, PC, Tablet oder Videospiel. „Was darüber hinausgeht, bewirkt Konzentrations- oder gar Hirnschäden“, behauptet der Bürgermeister.
Wenn die Kinder den Eltern in den Ohren liegen, all ihre Klassenkameraden hätten ein iPhone, und wer keins habe, ernte auf Mitleid oder Spott? Der Gemeinderat schenkt den Einwohnern ein einfaches Sprechtelefon mit neun Tasten und der SMS-Funktion – gegen die Verpflichtung, den Kindern bis zum 15. Lebensjahr kein Smartphone anzuschaffen. „Das Ziel ist es“, erklärt Paul-Petit, „dass alle das gleiche Gerät haben.“
Das gallische Dorf als Zukunftsmodell?
In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron eine Digitalkommission eingesetzt, die bis Ende März Vorschläge ausarbeiten soll, wie der übermäßige Bildschirmkonsum kontrolliert und eingeschränkt werden könnte. Paul-Petit erwartet nicht allzu viel von dieser Expertengruppe. Die gängigen Kindersicherungen ließen zu viele Umgehungsmöglichkeiten offen und nützten zu wenig, findet er. „Die beste Lösung wäre, Jugendlichen das Handy bis zu 18 verbieten. So lange kommen sie an der Schule auch ohne aus.“
Ziemlich radikal, Monsieur Paul-Petit. Verweigert sich da ein 64-Jähriger der digitalen Ära? Im Gegenteil, der Bürgermeister glaubt, der Entwicklung voraus zu sein: „Sie werden sehen“, sagt er, „in drei, vier Jahren wird Meta mit so vielen Prozessen von Eltern und US-Bundesstaaten eingedeckt sein, dass sie ihre Programme auf die echten Bedürfnisse der Kinder ausrichten müssen.“ Wäre das gallische Dorf dafür ein Vorbild?
Handynutzung in Deutschland
Umfrage
150 Minuten nutzen Menschen in Deutschland durchschnittlich jeden Tag ihr Smartphone. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage, die der Digitalverband Bitkom am Dienstag vorstellte. Die Jüngsten (16- bis 29-Jährige) gaben ihre tägliche Nutzungszeit mit 182 Minuten an, die Ältesten (über 65 Jahre) nutzen ihr Smartphone im Schnitt immerhin 96 Minuten.
Kontakte
55 Prozent der Nutzer gaben an, ohne das Gerät bereits viele Freunde aus den Augen verloren zu haben. 83 Prozent können sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen.