Burkina Fasos Militärjunta zwingt im Kampf gegen Islamisten unliebsame und aufmüpfige Zivilisten an die Waffen. Ein meinungsstarker Arzt hat den Einsatz überlebt – und lässt sich weiterhin nicht den Mund verbieten.
Als im vergangenen September die Soldaten kamen, hatte Arouna Louré gerade die Vollnarkose eingeleitet. Sein Patient, ein Mann um die 50, lag wegen eines schweren Bandscheibenvorfalls auf dem Operationstisch und hatte bereits das Bewusstsein verloren. Nur deshalb kam ihm sein Anästhesist nicht sofort abhanden. Denn der Arzt habe unverzüglich mitzukommen, teilten die unwillkommenen Besucher Louré mit. „Das geht doch nicht“, erwiderte der Mediziner. Die Operation war auf 90 Minuten angesetzt, ohne ihn könnten Komplikationen bei der Narkose tödlich enden. Einen Moment zögerten die Männer. Dann warteten sie gnädigerweise mit der Abführung, bis ein anderer Anästhesist übernommen hatte. Louré wehrte sich nicht.
Kritiker leben gefährlich
Er wusste, die Soldaten würden eines Tages kommen. Nach der Machtergreifung der Armee vor zwei Jahren hatte der 39-Jährige einfach damit weitergemacht, offen zu sagen, was er denkt. Zunächst über das Greifbare, direkt vor seinen Augen: die Korruption und das Missmanagement im Gesundheitssektor. Auf Facebook, wo ihm 26 000 Leser folgen, bei öffentlichen Diskussionen oder Gewerkschaftstreffen sprach er später auch über die Politik im Land insgesamt, über die Willkür der Justiz, über die Putschisten und deren planlosen Kampf gegen den ausufernden Terrorismus in dem Sahelstaat. Doch, wer in Burkina Faso den Mund aufmacht, lebt gefährlich.
Die Konfliktdatenorganisation ACLED sieht einen „fast landesweiten Konflikt mit der Dimension eines Bürgerkrieges”. 8000 Tote gab es 2023, doppelt so viele wie im Jahr davor, teilt die ACLED mit. Offiziell sind Zweidrittel des Landes, das nicht viel kleiner ist als Deutschland, unter staatlicher Kontrolle. Kritische Beobachter halten aber selbst 50 Prozent für eine optimistische Schätzung.
Im April 2023 verschärfte die Junta per Dekret die Rekrutierungsvoraussetzungen für die Zivilisten-Truppe „Freiwillige für die Verteidigung des Heimatlandes“ (VDP), seitdem darf auch zwangsrekrutiert werden, um einzelne Landstriche von den Terroristen zurückzuerobern. Jeder Mann im Alter von 17 bis 70 Jahre kann eingezogen und notdürftig ausgebildet und bewaffnet in den Kampf geschickt werden. Wer Kritik übt, landet rasch an der Front.
Epizentrum des globalen Terrors
Anders als die Nachbarn in Mali, setzt die Junta nicht auf russische Wagner-Söldner, um gegen Dschihadisten und andere bewaffnete Gruppen in den Krieg zu ziehen. Zumindest vorerst nicht. Russlands Diktator Wladimir Putin hat zwar 100 Soldaten geschickt, aber die haben sich auf dem Gelände des Präsidentenpalasts in der noch recht sicheren Hauptstadt Ouagadougou eingenistet. Französische Kampftruppen wurden Anfang 2023 aus dem Land gewiesen, wie zuvor schon in Mali und Niger. Die Dienste der verhassten Ex-Kolonialmacht sind in diesen Wüstenländern, dem Epizentrum des globalen Terrors, nicht mehr erwünscht.
Weil der Westen keine Waffen mehr liefert, kauft man inzwischen Drohnen in der Türkei ein. China lieferte in erheblichem Umfang Militärausrüstung, auch in den Iran und nach Nordkorea streckten die Generäle ihre Fühler aus. Irgendwo müssen die Waffen herkommen, um die Terroristen aufzuhalten. Angesichts der Bedrohung ist man bei den Lieferanten nicht allzu wählerisch.
Russische Soldaten wurden zwar vereinzelt in den von Terror bedrohten nördlichen Gegenden gesichtet. Vor allem aber werden sie gebraucht, um Junta-Chef Ibrahim Traoré gegen Putsch-Versuche aus den eigenen, zerstritten Reihen zu schützen. So sind sie ebenso gebunden wie einige der besten burkinischen Einheiten, obwohl sie an der Front gebraucht würden. Demnächst sollen weitere 200 russische Soldaten ankommen. Er wolle keine Wagner-Leute, betont Traoré. Das mit Rohstoffkonzessionen käufliche Leibgarden-Angebot des Kremls ist andernorts in Afrika durchaus willkommen. Man brauche „Patrioten“, so die Militär-Propaganda. Ähnlich wie einst Volksverteidigungseinheiten in Syrien und dem Irak oder auch in Nigeria sollen in Burkina Faso Bürger die schwache Armee mit ihren 12 000 Soldaten und Polizisten unterstützen.
Zunächst bestand die VDP tatsächlich überwiegend aus Freiwilligen in den betroffenen Gegenden im Norden und Osten. Ihre Größe wird auf 50 000 Mann geschätzt. Freiwillige nutzten ihre Waffen allerdings oft für Verbrechen und Eskalationen gegen rivalisierende Volksgruppen, sodass es kürzlich untersagt wurde, Waffen abseits von Kampfhandlungen gegen Terroristen mit sich zu führen. So zeigen sich bereits jetzt schon die Gefahren einer nur schwer umkehrbaren Bewaffnung und Militarisierung der Zivilbevölkerung.
Ihre Einberufung in die VDP müssen in Ouagadougou nur wenige fürchten – solange sie ihren Mund halten. Doch der Arzt Louré wurde 250 Kilometer von der Stadt entfernt eingesetzt, in einer Gegend, in der er keine Ortskenntnis hatte. So ging es zuletzt vielen, die sich kritisch gegenüber der Junta geäußert hatten. Es gab auch Entführungen. Der Aktivist Daouda Diallo, Generalsekretär einer zivilgesellschaftlichen Koalition, wurde im Dezember entführt und im März wieder freigelassen wurde. Oder der gleichermaßen einflussreiche wie meinungsstarke Unternehmer Anselme Kambou. Beide wurden regelrecht von Sicherheitskräften gekidnappt. Von Kambou gibt es seither kein Lebenszeichen. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch weitet die Junta so „ihr Vorgehen gegen Andersdenkende aus“. Louré ist einer davon. An einem Sonntagabend sitzt er in seinem Büro in einem Krankenhaus in Ouagadougou, eine lange Schicht liegt hinter ihm. Das Land hatte schon immer zu wenig Ärzte, ihr Gehalt liegt bei umgerechnet rund 500 Euro. Seit der Terror aus Mali herüberschwappte und viele das Land verließen, werden Mediziner wie er noch dringender gebraucht – auch von der Armee. Und das rettete ihm möglicherweise das Leben.
Land der aufrechten Menschen
Er habe Glück gehabt, sei zur Versorgung der Verwundeten eingesetzt worden. „Ich musste nicht direkt kämpfen“, sagt der Arzt. Aber während seiner zwei Monate an der Front verging keine Nacht ohne Gewehrschüsse. Er fragte sich, was, wenn sie das Camp angreifen? Nur fünf Wochen war er ausgebildet worden, ein wenig Umgang mit Waffen. „Viel mehr war da nicht“, sagt Louré. Wie sollte er wissen, wer der Feind ist? „Wer nicht aus der Gegend stammt, kann die lokalen Dynamiken der Gewalt kaum verstehen. Allein deshalb ist das Programm nicht sinnvoll.“ Der Einzug sei „ein systematisches Instrument der Strafe“, sagt er. „Manchmal reicht schon ein kritischer Kommentar unter einem Facebook-Post.“
Wie durch ein Wunder wurde keiner der „Freiwilligen“, die mit ihm nahe der Grenze zu Mali eingesetzt wurden, getötet. Dass er noch am Leben ist, kann während des Einsatzes kaum einer seiner Familie mitteilen. Den eingezogenen Regimegegnern wird das Handy weggenommen und der Pass gleich mit.
In einer Hotellobby versucht Laurent Kibora, einer der Berater der Junta, die Rekrutierung der VDP-Truppen zu rechtfertigen: „Während des Zweiten Weltkriegs wurde doch auch ganz Frankreich mobilisiert”, sagt der Sicherheitsexperte. Und den Bürgern in seinem Land müsse doch in den betroffenen Dörfern die Möglichkeit gegeben werden, sich zu verteidigen.
Es stimme, dass auffällig viele Regimegegner auch aus der Ferne eingezogen würden, räumt Kibora ein. „In Kriegszeiten ist bestimmte Kritik am Militär nicht akzeptabel, etwa die verleumderische Unterstellung, dass es nichts gegen den Terror unternehme.“ Es gehe nicht darum, skeptische Bürger im Kampf zu verheizen, sondern ihnen die Situation vor Ort zu zeigen. „Wenn man das sieht, dann wird einem klar, ob das Gesagte richtig oder falsch war.“
Was richtig ist und was falsch, möchte Arouna Louré lieber gerne selbst und nicht unter Lebensgefahr herausfinden. Er scheut sich nicht, mit Journalisten über seine Erfahrungen an der Front zu reden. Auch nicht, als ihm ein Onkel berichtete, wie ihn ein befreundeter Soldat nach einem BBC-Bericht zur Seite genommen hatte. Seine Botschaft: „Dein Neffe hält jetzt mal besser die Klappe.“ Das kommt für Louré nicht infrage. Auch nicht das Verlassen seiner Heimat, zu dem ihm so viele raten. „Ich kämpfe seit zehn Jahren gegen schlechte Regierungsführung“, sagt Louré. Solange sich das nicht ändere, werde das Land unsicher sein, die aktuelle Situation sei lediglich die Folge. „Wenn ich mich wegducke, überlebe ich vielleicht heute – aber was ist morgen?“
Er hat mit seiner Frau gesprochen, denn natürlich denkt er auch an die drei gemeinsamen Kinder. Sie sieht es wie er: bleiben und nicht schweigen für die Zukunft seiner stolzen Heimat. Übersetzt bedeutet der Ländername Burkina Faso übrigens „Land der aufrechten Menschen“.