Kälbertransporte in Baden-Württemberg Gestresste Babys

Knapp 12 000 Kälber sind im vergangenen Jahr aus Baden-Württemberg direkt ins Ausland transportiert worden. Aber wie viele weitere Jungtiere kamen über Umwege dorthin? Foto: Animal Welfare Foundation

Noch immer ertragen Tausende Kälber, die noch gesäugt werden müssten, Transporte über weite Strecken. Warum haben viele dieser Tiere kaum einen Wert und gelten als „überzählig“?

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Da war selbst die Forscherin der Universität Hohenheim verblüfft: Viele Menschen wüssten zwar, dass die meisten Kälbchen nach ein oder zwei Tagen von ihrer Mutter getrennt würden. Aber dass eine Kuh jedes Jahr ein Kalb gebären müsse, damit sie Milch gibt, sei vielen nicht bekannt, sagt Mareike Herrler, die an einer neuen Studie zur Kälberproblematik mitgearbeitet hat. Die Zahlen belegen: In Baden-Württemberg wurden im vergangenen Jahr 349 000 Kälber geboren – bei 365 000 Milchkühen. „Eventuell verdrängen viele Menschen diese Tatsache auch“, sagt Mareike Herrler, „um Schuldgefühle beim Kauf von Milchprodukten zu vermeiden.“ Denn man könnte hart formulieren: Wer Milch trinkt, unterstützt diese Art der Aufzucht und den Transport von Kälbern, die noch Muttermilch brauchen.

 

Die Kälber werden weggefahren, weil viel mehr auf die Welt kommen als notwendig, um die alten Milchkühe zu ersetzen. Ein Drittel wäre ausreichend. Tierärzte und Tierschützer prangern die langen Transporte seit Jahren an. Die Kälber bräuchten noch Muttermilch, doch die Lastwagen seien nicht mit Trinkvorrichtungen ausgestattet, an denen sie saugen könnten, sagt Iris Baumgärtner von Animal Welfare Foundation. Seit Jahren fährt sie Transporten hinterher und dokumentiert Verstöße. Die Tiere litten an Durst und Hunger. Auch das Immunsystem sei noch nicht voll entwickelt. Die langen Transporte – erlaubt sind 19 Stunden inklusive einer Stunde Pause ab einem Alter von vier Wochen – würden die Kälber stressen: „Das sind noch Babys.“

Ein männliches Holstein-Kalb ist nur rund 50 Euro wert

Vor allem die männlichen Kälber, die ja später keine Milch geben, sind ein Problem. Zwar können sie je nach Rasse zur Mast eingesetzt werden, ebenso wie die überzähligen weiblichen Tiere. Aber da es im Südwesten kaum Mastbetriebe gibt, werden auch diese Tiere sehr oft nach Norddeutschland oder nach Holland transportiert.

Bei Bullenkälbern reiner Milchrassen, wie der Holstein Schwarzbunt-Rasse, lohnt zumindest in Deutschland nicht einmal die Mast. Sie sind kaum etwas wert, der Landwirt erhält für sie 50 bis 70 Euro. So werden sie oft nach Spanien verfrachtet und teilweise von dort aus weiter per Schiff in arabische Länder. „Diese Kälber erfahren weder unter ethischen noch unter ökonomischen Aspekten eine Wertschätzung“, sagt Mizeck Chagunda, Leiter der Hohenheimer Studie. Nur selten dringt an die Öffentlichkeit, welchen Qualen Nutztiere bei den langen Reisen ausgesetzt sein können. Vor Kurzem ging die Meldung um die Welt, dass ein Schiff vor Kapstadt mit 19 000 hungernden und völlig erschöpften Rindern liegen geblieben war. Die Tiere kamen aber nicht aus Deutschland.

Von wie vielen Tieren reden wir eigentlich, die da über viele hundert Kilometer hinweg transportiert werden? Eine Nachfrage beim Agrarministerium bringt nicht wirklich Licht ins Dunkel. Im vergangenen Jahr seien knapp 12 000 männliche und 726 weibliche Tiere ins Ausland verbracht worden, heißt es. Das wären lediglich 3,6 Prozent aller im Land geborenen Kälber. 80 Prozent davon wurden in die Niederlande gefahren. Doch Iris Baumgärtner erzählt, dass es gängige Praxis sei, die Tiere durch mehrere Sammelstellen in anderen Bundesländern zu schleusen – und am Ende dann doch ins Ausland zu bringen.

Mit wie vielen Tieren so verfahren wird, kann das Ministerium nicht genau sagen: „Dazu haben wir keine belastbaren Daten, da nationale Transporte bis zu acht Stunden nicht statistisch erfasst werden“, sagt der Sprecher Sebastian Hascher. Durch das Sammelstellen-Hopping wird die Transportspur der Kälber verwischt. Die Tierschützerin Susanne Kirn-Egeler von „X Orga“ glaubt deshalb, dass viele Kälber über Holland in Spanien landen. Sie sagt: „Das ist ein sehr intransparentes System.“

Spanien-Transporte sind seit dem Sommer ausgesetzt

Aber es gibt auch Lichtblicke. Die besonders langen Transporte nach Spanien aus Baden-Württemberg sind zumindest seit Juli vergangenen Jahres ausgesetzt. In früheren Jahren brachen fast wöchentlich Lastwagen von Bad Waldsee nach Spanien auf. Im Jahr 2021 mit insgesamt 9216 Kälbern. Im vergangenen Jahr waren es dann weniger als 2000. Der Grund dafür ist nicht bekannt. Eine Anfrage an das Kälberkontor Süd, das die Transporte organisiert, blieb unbeantwortet. Das Agrarministerium geht aber davon aus, dass die Transporte nach Spanien wieder aufgenommen werden könnten.

Möglich ist, dass das vorläufige Aus auch etwas mit der Ausstattung der Lastwagen zu tun hat. Bisher waren die Kälber mit polnischen Lkw nach Spanien gefahren worden. Behörden hielten diese Fahrzeuge zwar immer wieder für unzureichend, doch Gerichte hatten vor vier Jahren diese Transporte noch erlaubt. Nun ist in Bayern ein neues Lkw-Modell zugelassen worden, das im Innern mit Plastikzitzen versehen ist, in die von außen eine Elektrolytlösung geleitet werden kann. Manches deutet darauf hin, dass auch hiesige Behörden Druck machen. Das Landesagrarministerium bestätigt, man erarbeite Optionen, „wie eine Verfügbarkeit entsprechender Fahrzeuge erwirkt werden könnte“. Gespräche mit Ausrüstern hätten bereits stattgefunden. „Die weiteren Entwicklungen bleiben abzuwarten.“

Eine positive Veränderung könnte womöglich auch eine neue Gesetzesinitiative der EU-Kommission für alle Tiertransporte bringen. Es handle sich um die größte Reform der EU-Vorschriften zum Schutz von Tieren beim Transport seit 20 Jahren, betont eine EU-Sprecherin. Danach sollen Kälber erst transportiert werden dürfen, wenn sie mindestens fünf Wochen alt sind. Sie müssten nach spätestens 19 Stunden ihre Endstation erreicht haben. Bei hohen Temperaturen soll nachts gefahren werden. Und bei Transporten auf See will man stärker kontrollieren. Die Tierschützerin Iris Baumgärtner ist skeptisch. Mit fünf Wochen seien die Kälber immer noch nicht abgestillt. Und die Kontrolle von Ausfuhren in Drittstaaten werde nicht funktionieren. Zudem gebe es vor der Europawahl im Juni bestimmt keine Entscheidung. „Der Vorschlag ist kaum das Papier wert, auf dem er steht.“ Zumindest würde das Sammelstellen-Hopping damit unterbunden, so Baumgärtner.

Bei Mischrassen wie dem Fleckvieh sind die Kälber nicht wertlos

Aber welche Maßnahmen wären denn geeignet, um die Zahl der langen Transporte zu verringern? Ein zentraler Punkt könnte sein, auf den Höfen mehr Mischrassen einzusetzen, die sowohl viel Milch geben, als auch viel Fleisch ansetzen. Dann würden viele Kälber zwar immer noch zur Mast auf Transport geschickt, aber seltener nach Spanien oder gar in Drittländer. In dieser Hinsicht stehe der Südwesten gut da, sagt Ann-Kathrin Brodbeck vom Landesbauernverband. Der Anteil der klassischen Zweinutzungsrasse Fleckvieh liege hier bei 40 Prozent.

Hanns Roggenkamp aus Weilersteußlingen im Alb-Donau-Kreis ist einer dieser Fleckvieh-Halter. Er hat 60 Milchkühe. Auf seinem Hof gebe es kein Kälberproblem, sagt er. Denn die männlichen Tiere könne er gut zur Mast verkaufen – an Höfe in der Umgebung. Auch Josephine Gresham von der Uni Hohenheim sagt, „Kälber mit höherer Mastfähigkeit bleiben tendenziell in der Region oder innerhalb Deutschlands.“ Für den Verbraucher lohnt es sich also, beim Metzger oder im Supermarkt zu fragen, woher das Kalbfleisch stammt.

Seine weiblichen Tiere behalte er sowieso bei sich, erzählt Hanns Roggenkamp weiter. Er wählt nach einiger Zeit die besten aus – als Ersatz für alte Milchkühe. Die übrigen würden nach etwa zwei Jahren geschlachtet. Dieses System funktioniere, weil der Verlust, den er wegen der geringeren Milchleistung hat, durch den höheren Verkaufspreis der Mastkälber ausgeglichen werde. Der Spitzenpreis bei einem Fleckvieh-Bullenkalb liege bei 300 bis 350 Euro. Die öffentliche Darstellung der Kälbertransporte indes hält Roggenkamp für übertrieben. Bei ihm legten sich die Kälber während der Fahrt meist ruhig hin und stünden erst bei der Ankunft wieder auf. „Vorerst brauchen wir jedenfalls die Möglichkeit der Transporte noch.“

Gesextes Sperma ist gut, macht Transporte aber nicht überflüssig

Ein weiterer Ansatz ist es, sogenanntes gesextes Sperma zu verwenden. Dabei werden Rasse und Geschlecht vorab bestimmt. So kann man etwa eine reine Milchkuh mit dem Sperma eines Limousin-Rindes besamen, das viel Fleisch ansetzt. Alfred Weidele, der Geschäftsführer der Rinderunion Baden-Württemberg, betont: „Diese Tiere eignen sich für Bullenmast, die vor allem in Deutschland stattfindet.“ Die Rinderunion betreibt eines von zwei Laboren in Deutschland, das gesextes Sperma herstellen kann. Das Verfahren sei aufwendig und patentgeschützt, sagt Weidele. Mit 26 bis 48 Euro pro Probe koste das Sperma etwa doppelt so viel wie normales. Im Südwesten liegt der Anteil des gesexten Spermas dank der Rinderunion höher als bundesweit, bei zehn bis 20 Prozent. Das grundsätzliche Problem aber bleibt: Die Zahl der Kälber kann man damit nicht senken.

Es gibt weitere Ansätze, um das Kälberproblem zu verringern. So hat die Uni Hohenheim im Projekt Wertkalb nachgewiesen, dass Landwirte häufig nicht viel weniger Milch erhalten, wenn sie die Kühe erst nach 15 statt nach zwölf Monaten wieder besamen lassen. Machten nur 13 Prozent der Betriebe mit, würden sieben Prozent weniger Kälber geboren, rechnet Josephine Gresham vor. Beim Projekt Korinna im Südschwarzwald kooperieren Berg- und Ackerbauern sowie der Handel miteinander, um die Kälber in der Region zu halten. Der wirtschaftliche Erfolg ist nur bei optimalen Bedingungen gewährleistet, lässt das Agrarministerium durchblicken.

Eine weitere Lösung wäre natürlich, die Tiere stärker im Südwesten zu mästen. Doch es gibt hier keine große Tradition in der Bullenmast. Zudem essen die Verbraucher bei uns wenig Kalbfleisch, auch weil es sehr teuer ist. Vor allem aber, betont Sebastian Hascher vom Agrarministerium, lohne sich die Mast nur in sehr spezialisierten Betrieben.

Es ist die absolute Ausnahme, dass das Kalb bei der Kuh bleibt

Am besten wäre es, das Kalb mehrere Monate lang gar nicht von der Kuh zu trennen. Bei der Initiative Kuh und Kalb ist das so. Da auf diese Weise weniger Milch für den Bauer übrig bleibt, ist der Preis höher. Bei Alnatura kostet ein Liter 1,99 Euro. Bei einem versuchten Testkauf war die Marke allerdings nicht vorrätig. Ganz weg von der Milch ist Philipp Duelli gegangen, ihm geht es nur ums Fleisch: Der Landwirt im oberschwäbischen Pfrungen hält 30 Mutterkühe auf der Weide, weibliche und männliche Kälber bleiben in der Herde: „Kein Tier geht auf Transport.“

Von einer flächendeckenden Verwirklichung dieser Art von Landwirtschaft sind wir allerdings so weit entfernt wie eine Kuh vom Fliegen.

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