In Bangladesch ist Sport oft reine Männersache. Im Norden des Landes ändert sich das gerade: Mädchen lernen Karate. Das soll sie nicht zuletzt im Alltag stärken.
Tasmin Toraiya Ohi hat den Blick strikt nach vorne gerichtet, während sie ihre Kolleginnen auf die Übungen einstimmt. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens in Rangpur, einer 300 000-Einwohnerstadt im Norden von Bangladesch. An der Sekundarschule Gangachara im Stadtzentrum wirkt auf den ersten Blick alles wie immer: Die Kleineren rennen wild über den Schulhof, die älteren Mädchen und Jungen verbringen die Pause in getrennten Gruppen und kichern.
Aber dann, mitten auf dem sandigen Hof, ist da eben die Truppe um die 13-jährige Tasmin Toraiya Ohi, alle in weiße Anzüge gekleidet – sie treiben Karate. „Wir machen das jeden Tag“, erzählt die Heranwachsende mit sichtbarem Stolz im Gesicht. „Vor Kurzem haben wir endlich den gelben Gürtel erhalten. Wir lieben es, Sport zu treiben!“ In Bangladesch lässt dieser Satz aufhorchen.
Sport soll die Rolle von Mädchen und Frauen stärken
Denn Mädchen machen hier eigentlich keinen Sport. So ist jedenfalls die Tradition, die an dieser Schule aber seit sechs Jahren gebrochen wird. Seit 2018 führen die humanitären Nichtregierungsorganisationen Care und Plan – unterstützt mit Geld von Europäischen Union und der Österreichischen Entwicklungsagentur – hier das sogenannte Jano-Projekt durch.
Neben einer Verbesserung der Ernährungslage in Zeiten des Klimawandels soll die Rolle von Mädchen und Frauen gestärkt werden. Damit auch sie ihr Wissen einbringen können, wenn sich das Land modernisiert. Als wichtiger Hebel soll der Sport wirken, sagt der Lehrer Shafiqul Alam, der den Mädchen aus der Ferne zusieht: „Durch das Projekt haben wir auch ein Fach eingeführt, das den Kindern nicht nur die Grundlagen einer gesunden Ernährung beibringt, sondern den Umgang mit der Pubertät.“
Die Jungen haben mehr Respekt vor den Mädchen
So etwas ist neu in Bangladesch. In 331 Schulen der Region werden nun Mädchen – und ausschließlich Mädchen – in Karate ausgebildet. Warum? Der Lehrer Shafiqul Alam erklärt das anhand einer Anekdote: „Mädchen und Jungen haben zwar gemeinsam Unterricht, sind bisher aber trotzdem immer getrennt voneinander. Das geht so weit, dass die Mädchen nur zusammen mit der Lehrkraft in den Klassenraum gehen und wieder heraus. Als bräuchten sie Schutz vor den Jungen. „Aber das ändert sich gerade“, sagt Alam. „Die Mädchen sind selbstbewusster geworden. Mädchen und Jungs sind jetzt öfter auch Freunde.“ Die 13-jährige Tasmin bestätigt das: „Ich fühle mich jetzt stärker. Wenn ich allein rausgehe, hatte ich früher manchmal Angst, dass ich angegriffen werde. Aber jetzt kann ich mich verteidigen.“ Am Anfang hätten sich ein paar Jungen über sie lustig gemacht. „Jetzt haben sie eher Angst vor uns, wenn sie auf dem Schulhof unsere Tritte und Schläge sehen.“
Dass Mädchensport in Bangladesch bisher ein Tabu ist, mag verwundern, wenn man sich die Rolle von Frauen in der Gesellschaft generell ansieht. Im „Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums, das in verschiedenen Gesellschaftsbereichen die Geschlechtergleichheit international vergleicht, schneidet Bangladesch nämlich im globalen Mittelmaß ab.
Seit 15 Jahren regiert eine Frau das Land
Seit 15 Jahren wird das Land von einer Frau regiert. Die wichtigste Exportindustrie ist der Textilsektor, in dem vor allem Frauen arbeiten. Das Weltwirtschaftsforum schreibt: „Island und Bangladesch sind die einzigen Länder, wo Frauen das höchste politische Amt im Land für mehr Jahre innegehabt haben als Männer.“ Der Bericht hebt hervor: „Mit der höchsten Geschlechtergleichheit in Südasien steht Bangladesch weltweit auf Platz 59.“ In der Kategorie „politische Teilhabe“ zeigt das Land besondere Fortschritte, rangiert hier sogar auf Platz sieben weltweit. Doch am Sport lässt das überwiegend muslimische 175-Millionen-Einwohner-Land Mädchen und Frauen nur ungern teilnehmen.
So berichtete vor einigen Jahren der türkische Sender TRT in seinem internationalen Programm über sportinteressierte Mädchen in Bangladesch: „Sie stehen oft dem Widerstand ihrer Eltern und der breiteren Gesellschaft gegenüber, die sie lieber jung verheiratet sehen würden; in einer Nation, wo Frauen schon zahlreichen Hürden begegnen, wenn sie nur Sport treiben wollen.“
Die Mädchen wollen zu Olympia – oder Soldatin werden
Aber es tut sich etwas. Im Cricket, dem mit Abstand beliebtesten Sport in Bangladesch, gibt es seit 2007 eine Nationalmannschaft der Frauen. Der bereits erwähnte Bericht von TRT nennt eine Frau, die im Jahr 2020 als Trainerin einer Männerfußballmannschaft arbeitete.
Wenn es nach Tasmin Toraiya Ohi geht, muss sich Bangladesch schon bald im Karate anstrengen: „Ich würde gerne zu Olympia. Dafür würde ich auch hart trainieren. Ich bringe Karate jetzt auch meiner Schwester und ein paar Freundinnen bei.“ Falls sie es selbst nicht schaffe, werden ja vielleicht aus ihnen große Athletinnen. Tasmins Freundin, die 13-jährige Sadia Ahmed, hat zwar keine Olympiaambitionen. Nützlich findet sie den Sportunterricht trotzdem: „ Ich glaube, ich will Soldatin werden. Ich mag das Kämpfen, die Art, so diszipliniert zu sein und Uniform zu tragen. Wir haben auch schon ein Karate-Zertifikat. Das hilft mir vielleicht mal bei meiner Bewerbung.“