Der „Zoo Sauvage“ in Kanada inszeniert Naturerlebnisse. Dort kann man wie einst die Trapper durch die Wildnis streifen und Grizzlys in die Augen blicken.

Saint Félicien - Drüben bei den Amur-Tigern, den Japanmakaken oder vor dem Schwimmbecken von Eisbärendame Asiaqvaq hatte alles noch gewirkt wie in einem modernen Zoo: Tiere in großen Freigehegen mit Spielgeräten hinter Gräben und Panoramascheiben gibt es dort zu bewundern. Doch jetzt beginnt eine völlig andere Geschichte: „Abenteuer im Land des Karibus“ nennen sie im „Zoo Sauvage“ in der ostkanadischen Gemeinde Saint Félicien das Erlebnisprogramm, bei dem aufgeschlossene Besucher für einen Tag die Zoo-Barrieren vergessen sollen.

 

Morgens um elf geht es los. Maximal ein Dutzend Personen brechen, von einem Profi begleitet, auf in die Wildnis. Auf verschlungenen Sträßchen geht es hinein in die borealen Nadelwälder, die hier im Norden Quebecs natürlicherweise heimisch sind. Bald taucht eine Gruppe Wapiti-Hirsche äsend zwischen den Bäumen auf. Einen Kilometer weiter öffnet sich die Landschaft zu einem weiten Grasland rund um den Lac Montagnais. Büffel grasen hier, Kanadagänse watscheln am Ufer entlang, und aus einer Senke am Straßenrand blickt ein zotteliger Schwarzbär faul und triefnass in die Kamera.

An den Hängen des Mount Keewatinook kann man mit dem Feldstecher in der Ferne sogar Moschusochsen ausmachen. Natürlich ist das Ambiente allerdings so wenig wie der windschiefe „Trading Post“ oder das Holzfäller-Camp, in dem die Besucher bereits erwartet werden. Zoodirektorin Lauraine Gagnon schickt sie von hier aus zunächst auf einen Spaziergang in den Wald. Anschließend geht es mit Kajaks hinaus auf den See, in dem nachmittags gerne die Elche ein Bad nehmen. Abends trifft man sich dann zum frisch gegrillten Steak am Lagerfeuer, während rund um die Kolonisten-Zelte die Karibus grasen.

„Früher haben wir auch Giraffen, Elefanten und Schimpansen gezeigt“

Für das Wildwest-Abenteuer im Zoo lassen die Gäste gerne 300 Dollar springen. Dass das Gebiet rund um den riesigen Lac Saint-Jean längst von sechsspurigen Highways durchschnitten und von Getreidefarmern und Milchbauern praktisch komplett entwaldet wurde, gerät dabei für einige Stunden in Vergessenheit. „Früher haben wir auch Giraffen, Elefanten und Schimpansen gezeigt“, sagt die Direktorin. 1960 hatte ihr Onkel, der ehemalige Dorfpolizist Ghislain Gagnon, mit fünf Mitstreitern den Zoo auf einer aufgegebenen Fuchsfarm gegründet. Schon bald kam der heute 4,5 Quadratkilometer große Naturpark hinzu - und um die Jahrtausendwende die größte Erkenntnis in der Zoogeschichte: „Unsere eigene authentische Natur ist für die Besucher heute mindestens so exotisch wie Elefanten.“

Seither zeigt der Zoo nur noch Tiere aus nördlichen Breiten und inszeniert Naturerlebnisse, die Durchschnittsmenschen selbst in den Weiten Nordamerikas sonst nur noch mit großem Aufwand finden können. Dass die Grizzlydame im Freiland so schlecht sieht, dass sie nicht mal mehr einen der Präriehunde zu fassen kriegt und in der Wildnis längst verendet wäre, sieht man auf den Erinnerungsfotos ja nicht. Spätestens mit der Entwicklung von Datenbrillen und dem viel beschworenen „Second Life“ schien die reale Welt vor einigen Jahren endgültig auf das Abstellgleis geschoben zu sein.

Freizeiterlebnisse würden ins virtuelle Leben im Internet verschoben, soziale Interaktion auf Chatforen beschränkt und die lokale Umwelt des Menschen zweitrangig, hatten Trendforscher prophezeit. Heute erzeugt die voranschreitende Gleichmacherei im weltweiten Konsum eine erstaunliche Gegenbewegung. Nicht nur der Wunsch nach regionalen Produkten, nach kultureller Identität und Live-Unterhaltung wächst. Viele Menschen sehnen sich nach Authentizität und finden diese immer häufiger wohl konserviert und perfekt inszeniert in geschützten, eingehegten Freizeitarealen.

Dabei braucht es gar kein „Disney World“ oder den „Jurassic Park“ wie in Steven Spielbergs Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1993. Ein paar Tiere, die früher durch Kindermärchen spukten, reichen längst aus. Im niedersächsischen Dörverden etwa kann man in einem Haus mitten in einem Wolfsgehege übernachten. Oder aber man begibt sich auf Zeitreise. Dabei müssen es keineswegs lange zurückliegende Epochen sein wie im Archäologischen Park in Xanten. An Englands Südküste wurde das urige Fischerdorf Clovelly unter Schutz gestellt und präsentiert sich jetzt als autofreies Refugium jenseits der heutigen Großstadt-Urbanität. Nur wenige Kilometer vom „Zoo Sauvage“ ist man ebenfalls auf diesen Zug aufgesprungen. 1901 hatte der Papierfabrikant Damase Jalbert hier zu Füßen der mächtigen Quiatchouan-Wasserfälle eine Papiermühle und ein Dorf für die Fabrikarbeiter gegründet. Nachdem zunächst die Spanische Grippe unter den Familien schwer gewütet hatte, wuchs die Belegschaft bis 1926 auf 980 Seelen an. Der Ort blühte auf.

Es hat sich praktisch nichts verändert

Es gab eine eigene Schule, eine hölzerne Kirche, einen Friseur, Kolonialwarengeschäfte und sogar ein Hotel im Dorf, das nun nach seinem Gründer Val-Jalbert hieß. Doch 1927 war die Unternehmung pleite und wurde über Nacht geschlossen. Alle Bewohner verloren ihr Zuhause, denn andere Arbeit gab es nicht. „Für uns war das ein absoluter Glücksfall“, sagt Dany Bouchard, der heute als Generaldirektor die Verantwortung für die ehemalige Siedlung trägt. Zwar haben die Holzgebäude in den vergangenen 80 Jahren teils schwer gelitten, doch ansonsten hat sich praktisch nichts geändert in Val-Jalbert. Wer durch das Drehkreuz im „Welcome Center“ hinaustritt, der reist damit praktisch zurück in die Vergangenheit. Nach einem Spaziergang durch den Wald steht man wenig später auf der alten Dorfstraße, wo die Arbeiterhäuser, die Kirche samt Friedhof und Schulhaus so wirken, als seien sie erst gestern verlassen worden. 47 Gebäude blieben erhalten und werden seit 2009 nach und nach saniert.

In den kleinen Häuschen sind nostalgische Gäste-Apartments entstanden, die mit Sprossenfenstern, Emaillewannen und Waschschüssel viel mehr Behaglichkeit verströmen als jedes Motel-Zimmer. In einem Teil der alten Fabrik lässt Bouchard den Gästen von livrierten Kellnern abends Slow Food wie in den 1920er Jahren servieren und fährt persönlich mit einem Oldtimer vor, um nach dem Rechten zu sehen. Von diesem Jahr an soll auch der Fluss wieder genutzt werden. Ein kleines Wasserkraftwerk wird alle Energie liefern, die Val-Jalbert braucht. Um die alte Fabrik selbst wieder zum Leben zu erwecken, hat Direktor Bouchard in der alten Fabrikhalle nebenan allerdings für 2,5 Millionen Dollar eine moderne Multimedia-Installation einbauen lassen.

Die Gäste stehen dabei auf einem Gitterrost, unter dem das Wasser durchrauscht, hören Geschichten und sehen Bilder ringsum, werden besprüht und beschneit. Unterhaltsam ist das, vielleicht auch lehrreich - aber authentisch? Authentisch wird es erst spätabends, wenn die Kellner Val-Jalbert längst verlassen haben und sich der Mond zwischen den Regenwolken zeigt. In seinem fahlen Schein liegt die Dorfstraße verlassen da. In der Ferne donnert der Wasserfall. Aus dem Wald dahinter ruft ein Raufußkauz. Im Haus gegenüber geht das Licht aus. Die Stadt gehört wieder den Geistern.

Infos zu Quebec

Anreise
Beste Flugverbindung mit Air Canada von Frankfurt über Montreal nach Bagotville am Lac Saint-Jean. Flugzeit ca. 12,5 Stunden, Preis ca. 1100 bis 1300 Euro, Anreise mit dem Auto von Montreal über Autoroute 40 E bis Trois-Rivières und QC-155 bis Val-Jalbert, ca. 430 km, Fahrtzeit 5 Stunden.

Unterkunft
Der Zoo Sauvage in St. Félicien veranstaltet unter dem Titel „Land of the Caribou“ bis Mitte Oktober ein Übernachtungsprogramm jeweils von 11 bis 13 Uhr des Folgetags, Ü im Doppelzelt inkl. aller Mahlzeiten und Aktivitäten. Erwachsene zahlen ca. 227 Euro, Kinder (6-12 Jahre) ca. 202 Euro. Nur Eintritt: Erwachsene 27 Euro, Kinder (2-5 Jahre): 11,20 Euro, (6-14 Jahre) 18,50 Euro.

Val-Jalbert bietet bis zum 12. Oktober auch Übernachtungspakete in der alten Siedlung im DZ mit HP und Eintritt für ca. 210 Euro p. P. an. Kinder (2-12 Jahre) zahlen im Elternzimmer 36 Euro. Nur Eintritt: Erwachsene 19,50 Euro, Kinder 5,80 Euro Information: http://zoosauvage.org/en, www.valjalbert.com/en

Weitere Themen-Tierparks
Im Serengeti-Park Hodenhagen in der Lüneburger Heide kann man in der Massai Mara-Lodge in einer von 40 afrikanischen Hütten übernachten, nur durch einen Wassergraben getrennt von den Giraffen, Straußen und Antilopen, www.serengeti-park.de

In der Reserve de Monts d’Azur in Thorenc, eine Stunde von Nizza und Cannes, warten Stoffzelte auf Mutige. Hier schläft man zwischen Wildpferden, Bisons, Wildschweinen und anderen Tieren des alten Europa. Ein Zaun schützt das Lager, www.haut-thorenc.com