Karl-Heinz Ott versammelt in seinem Roman „Auferstehung“ vier Geschwister am Totenbett ihres Vaters und lässt sie ihre Lebensformen zerpflücken. Ein konversatorisches jüngstes Gericht.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Vier Geschwister, eine Leiche und ein Schwein. Das sind die Akteure des neuen Romans des in Freiburg lebenden Autors Karl-Heinz Ott. Und sie agieren in etwas, was man auf dem Theater vermutlich eine Farce nennen würde, wie dieses Buch überhaupt am Leser vorüberrauscht, als wäre es ein rasantes, auf pointierte Dialoge getrimmtes Bühnenstück.

 

Die Familie bietet ein unerschöpfliches Reservoir an Ambivalenzen, Lebenslügen und Gefühlssprengsätzen aller Art. Mit Vorliebe gezündet werden sie zu jenen Anlässen, an denen diese spezielle Form der Vergemeinschaftung zu sich selbst kommt. Häufig sind es Geburtstage, die in Literatur, Theater und Film zu Orgien der Abrechnung werden. Karl-Heinz Ott macht nun genau das Gegenteil konfliktfähig: den Tod des Vaters, der vier in die Weiten unterschiedlicher Lebensentwürfe zersprengte Geschwister wieder in der gemeinschaftlichen Sorge um das Erbe vereint.

Warten auf das Schwein

Das schöne Haus in der Nähe Ulms, in dem der Vater leblos auf dem Sofa liegt, gehört es den Kindern überhaupt noch? Und der Zweitwohnsitz am Lago Maggiore? Erbt all dies womöglich die „ungarische Hure“, wie die Tochter Linda die Haushälterin des Verstorbenen nennt? In den letzten Jahren ist der alte Witwer seine eigenen Wege gegangen, davon zeugen die von Linda wütend zerknüllten Porno-Poster im Mülleimer: „Ein wahrer Harem muss hier gehangen haben, der den Vater vermutlich keine einzige Stunde mehr richtig zur Ruhe kommen ließ.“ Nun ruht er. Und bevor sein Tod amtlich wird, muss auf jeden Fall das Testament her, um es im Fall der Fälle vielleicht einfach verschwinden zu lassen. Deshalb wartet man nun auf das Schwein – ebenfalls eine Titulierung Lindas, jetzt für den Rechtsanwalt, der sie einst sitzen ließ und nun als Testamentsvollstrecker fungiert.

Das ist die Ausgangssituation, aus der sich ein munteres Kammerspiel entwickelt – oder eben eine Farce, wenn man bei diesem Begriff seinen Ursprung in der Küchensprache mitdenkt, wo er eine Füllung aus klein gehacktem Fleisch bezeichnet. Karl-Heinz Ott füllt die Frist zwischen Tod und Schwein mit Gesprächen und bekömmlich zerhacktem Ideengut. Grundiert von ziemlich irdischen Interessen angesichts der letzten Dinge stellen die vier Geschwister ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe zur Disposition: eine Art konversatorisches Jüngstes Gericht an der Schwelle von Diesseits und Jenseits, Jugend und Alter, Küche und Wohnzimmer.

Im Gespinst der Ernährungsreligionen

Da ist der Bruder Joschi, ein orthodoxer Marxist, der als gnadenloser Radikalkritiker des Kapitals einst selbst dessen Versuchungen erlag und eine große Summe Geld veruntreute. Nun sitzt der unbarmherzige Demaskierungsexperte am Tisch, ein leicht feister Greis mit Kugelbauch, der mit matten, müden Augen erloschener wirkt als der tote Vater an seiner Seite.

Seine geschäftstüchtige Schwester Linda leitet ein Art-Haus in der Provinz, in das an manchen Tagen zwei Besucher finden, um sich von zeitgeistigem Begriffsgeklingel erschöpfen zu lassen. Ihr Lieblingswort ist „spannend“. „Picasso findet sie nicht weniger spannend als einen stinkenden Kleintierzoo mit Igeln und Schnepfen, der für hundert Tage in einem Museum Platz findet und den Zuschauer zum Nachdenken über die Grenzen zwischen Natur und Ästhetik (. . .) zwingen soll.“

Für Natur und Esoterik ist Uli zuständig, ein Altfreak, der mit seiner Frau alle möglichen Ernährungsreligionen durchlaufen hat: vegetarisch, vegan, mal gibt es nur Trennkost, durchsetzt mit ayurvedischen Phasen oder Hildegard-von-Bingen-Wochen. Früher setzten sie sich für ein Tierparlament ein, heute verfolgen sie, wie der Traum vom alternativen Leben auf der Alb mit dem Rauch ihrer Joints verfliegt.

Das Elend des Herkommens

All diese schönen Charakterbilder aber sind gesehen mit den Augen Jakobs, des Vierten im Bunde. Er steht dem Autor am nächsten. Was vermutlich an dessen Vorlieben für Pascal, Adorno und Chablis liegen wird. Linda hält ihn für einen fahrlässigen Kaffeehausliteraten, Uli für ein Opfer der Frankfurter Schule mit dieser unbändigen Wut auf alles, was den allermeisten Leuten gefällt. Und Joschi knurrt. Als Kulturjournalist schlägt sich Jakob leidlich durch, gerade war er in Paris, um einen Film über die Jenseitspanik Pascals zu drehen.

Nun sitzen sie da an der Seite eines Toten, plaudern über Religion und das Elend des Herkommens und zerpflücken gegenseitig ihre Lebensformen. Das klingt mal nach Yasmina Reza, manchmal nach Volkshochschule, findet aber, umspielt von Otts melancholischem Humor, zu einem eigenen Ton. Vieles erscheint durchaus vertraut. Die intellektuelle Bewusstseins- und Gesellschaftsgeschichte der alten Bundesrepublik kehrt hier als Farce wieder, um ein Marx-Wort abzuwandeln.

Das aber wäre der einzige Einwand, der sich gegen das Buch erheben ließe: Eine Farce ist kein Roman. Es regiert das Gesetz der Bühne, die Einheit von Ort und Zeit. Und der hier machtvoll fließende Strom der Erinnerung kann den epischen Handlungsraum eines Romans nicht immer ausfüllen. So muss am Ende auch ein veritabler Coup de Theatre Belebung bringen. Ach, haben wir überhaupt schon erwähnt, wie dieser Roman heißt? „Die Auferstehung“.