In „Die letzten Tage der Menschheit“ hat der österreichische Autor Karl Kraus den ersten Weltkrieg verarbeitet. Jetzt erlebt er eine Renaissance.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Karl Kraus, in Ostböhmen vor knapp 140 Jahren geboren und Wiener aus Berufung, starb 1936: überarbeitet, an einem Herzinfarkt und auch am Leben, zuletzt unter Hitler. Er gilt als literarisch-historischer Fall für Spezialisten – und eigentlich auch als abgetan. Aber sagen wir so: wer seine Schriften im Regal stehen hat und öfter zu ihnen greift, fühlt sich – als Zeitungsschreiber zumal – oft einfach beobachtet vom Bücherbord aus und durch Kraus’ blitzende Augen hinterm Zwicker. Schließlich lief bei ihm und in seiner Zeitschrift „Die Fackel“, deren gut 900 Ausgaben er zwischen 1899 und 1936 fast ganz alleine füllte (immerhin 30 000 Seiten), alles darauf hinaus, dass die Leute lesen lernen sollten. Richtig lesen. „Werde misstrauisch“, heißt es dort, „und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Cultur winkt die Errettung.“ Was gefährlich klingt und zugleich wie ein Heilsversprechen. Nun denn.

 

Die Wiener Zeitungsmarktsituation der Jahrhundertwende war abgründig. Beherrscht wurde der Markt von Moriz (sic!) Benedikt, dem jüdischen Herausgeber und Chefredakteur der „Neuen Freien Presse“. Benedikt gehörte zu den reichsten Männern im Habsburgerreich, was den Fabrikantensohn Kraus, ebenfalls aus einer jüdisch-assimilierten Familie, wiewohl seit 1911 für gut zehn Jahre heimlich zum Katholizismus konvertiert, aber nicht groß störte. Massiv Anstoß dagegen nahm er an Benedikts politischer Tätigkeit.

Ein Kraus-Projekt von Daniel Kehlmann und Jonathan Frenzen

Der – wie sich dann herausstellen wird – letzte österreichische Kaiser Karl I. hatte den Zeitungsmann ins Herrenhaus, die Machtzentrale, berufen. Von dort aus ordnete Benedikt die Geschehnisse an der Börse, machte Meinung und inszenierte, via Zeitung, Ministerbesetzungen und -beschlüsse. Korruption wiederum brachte Kraus – außer, wenn es um Theaterliebschaften ging, die er sich selten, aber manchmal eben doch erschrieb – stets auf die Palme. Den Gipfel des öffentlichen Geschiebes und Gemauschels sah er personifiziert im Typus des Politikers respektive Journalisten Benedikt’scher Prägung.

Hundert Jahre her? Hundert Jahre her! Und deswegen jetzt erst mal ein historischer Sprung von 99 Jahren – und zwar nach vorn.

Im Herbst 2013 sitzen im Deutschen Haus an der New York University (auch bei Youtube zu bestaunen) Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“, „F“) und Jonathan Franzen („Die Korrekturen“, „Freiheit“), um ein von Franzen – der Anfang der achtziger Jahre in Deutschland gelebt hat – ediertes Buch vorzustellen. Es heißt „The Kraus Projekt“ (Verlag Harper Collins) und versammelt zwei von Franzen übersetzte und mit vielen Anmerkungen versehene Aufsätze: „Heine und die Folgen“ ist eine, wie öfter bei Kraus, antisemitisch grundierte Polemik gegen den Mit-Erfinder des Feuilletons. Heine, sei der deutschen Sprache „ans Mieder“ gegangen, behauptete Kraus. Selbst Walter Benjamin, der viel für den Wiener Publizisten übrig hatte, fand das einen „Salto mortale“. Aber wie auch immer.

Seine Wut löst auch heute noch Irritationen aus

Verlässlich jedenfalls löst Kraus’ „anger“, seine verbale Wutwucht, die sowohl Franzen wie Kehlmann am meisten an ihm bewundern, auch heute noch Irritationen aus: In der „New York Review of Books“ steigert sich in einer Besprechung der Übersetzer Michael Hofmann – im Duktus seltsam analog zu Kraus – in einen wahren Anti-Karl-Kraus-Furor hinein, bis er benannt zu haben meint, was sich hinter dessen Fassade verberge: „ein Perpetuum mobile solipsistischer Selbstverstärkung“. Das hat der Wiener Schriftsteller Hans Weigel vor vielen Jahren schon ähnlich ausgedrückt: „Hinter Karl Kraus steht immer nur Karl Kraus.“

Konservative Kulturkritik

Franzen und Kehlmann wiederum stehen vergleichsweise stramm vor dessen Autorität und Weitblick. „Ganz bewusst“, so Franzen, so Kehlmann, „hat Kraus zu uns gesprochen.“ Was hören die beiden da? Man kann es verkürzt beantworten: konservative Kulturkritik. Wie Kraus im Nestroy-Aufsatz die Wiener „Journaille“ vorkommt (eine „Maschine, in die vorn der Geist hineingetan wird, um hinten als Druck herauszukommen, verdünnend, verbreitend, vernichtend“) – empfinden Franzen und Kehlmann die Schein-Neuigkeitenproduktion im Internet. Im Namen von Hightech und Massenkommunikation verschleiere sich die Katastrophe. Anders gesagt: was auch passiert, es klingelt, bevor überhaupt irgendein Gedanke gefasst werden könnte, immer ein iPhone. Die Wirklichkeit überspielen? Nichts leichter als das. Denn:

(Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke . . .)

Ein Zeitungsausrufer: „Extraausgabee -! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!

Ein Korsobesucher (zu seiner Frau): Gottlob kein Jud . . .

Ein Offizier: Grüß dich Powolny! Also was sagst? Gehst in die Gartenbau . . .“

Hier haben wir die berühmte Anfangsszene einer „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“, von Karl Kraus, „Die letzten Tage der Menschheit“ genannt. Das Stück setzt ein nach dem Anschlag auf Franz Ferdinand in Sarajevo. Es hatte allerdings gedauert, bis Kraus sich entschließen mochte, die Weltkriegsereignisse in dieser Form, nämlich als „Marstheater“, Umfang zweihundert Szenen, anzulegen. Unspielbare Szenen im Übrigen, obwohl die Theater derzeit wieder den Stoff dramaturgisch drehen und wenden. Nicht, weil hemmungslos Blut fließen würde. Ganz im Gegenteil blieb Kraus Schützengräben und Schlachtfeldern fern. Er hatte Wien, die Straße, das Volk; und er hatte vor allem die Zeitungen und Moriz Benedikt, den „Herrn der Hyänen“, immer im Visier; die Ohren einfach überall. „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Man kann, wie gesagt, die Tragödie nicht aufführen. Man muss „Die letzten Tage der Menschheit“ lesen. Allenfalls hören lassen sie sich, aber auch nur von Ausnahmestimmen: Peter Lühr, Helmut Qualtinger (der abwechselnd den Nörgler und den Optimisten im Stück gab).

Die Menschheit geht vor die Hunde

Karl Kraus, Kriegsgegner von Anfang an – anders als Hugo von Hofmannsthal oder der in dieser Sache windige Thomas Mann – kam aus alten Zeiten und hoffte nicht, bei allem Misstrauen, in andere gehen zu müssen. Der mindestens dubiosen Gestalt Franz Ferdinand huldigte er im Nachhinein (in der Juli-„Fackel“ 1914): Er „war die Hoffnung dieses Staats für alle, die noch glaubten, daß im Vorland des großen Chaos ein geordnetes Staatsleben durchzusetzen sei. Kein Hamlet, der, wär’ er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt hätte; sondern Fortinbras selbst. Aber wenn selbst Fortinbras fällt, muß etwas faul auch außerhalb des Staates sein.“ Das war sein Ernst (kam Shakespeare ins Spiel, hörte jeder Spaß auf). Publizistisch schwieg Karl Kraus ein halbes Jahr. Als er mit den „letzten Tagen der Menschheit“ begann – die Teile erschienen, teils fragmentarisch, den Krieg hindurch und bis 1919, erst 1922 in Buchfassung – war er, alles in allem, noch Monarchist. Mit der Zeit aber geht Kraus auf Distanz zum Hause Habsburg und wird vor allem zum ersten Kritiker des deutschen Kaisers. Ihm wirft er vor, nicht nur dumm, pervers und oberflächlich zu sein, wie grundsätzlich die in der „Menschheit“ auftretenden Militärs, Medienleute und Mitläufer, sondern ein Wahnwitz, zum Popanz aufgeblasen.

Ohne Ausnahme geht am Ende die Menschheit in dem Drama vor die Hunde. Und Gott, mit dem Kraus auf noch einmal ganz anderem Kriegsfuß stand, sagt (wie Wilhelm II.) realsatirisch: „Ich habe es nicht gewollt.“

Der oberste Ankläger

Karl Kraus war, wie es der hellsichtige Walter Benjamin gesagt hat, jemand, um den herum sich die Prozesse türmten. Gerichtstand blieb, bis zu seinem Tod, die „Fackel“. Benjamins Resümee zu Kraus ist von einer Modernität, die Kehlmann und Franzen, weil nur medienmüde (was die beiden sich schon irgendwie richten könnten), schon fast wieder alt ausschauen lässt: „Daß dieser Mann, einer der verschwindend wenigen, die eine Anschauung von Freiheit haben, ihr nicht anders dienen kann denn als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige Dialektik am reinsten dar.“

Wo, bitte, wäre unser Karl Kraus?