Eine junge deutsche Forscherin spielt beim Karneval in Rio auf einem der Festwagen mit. Dabei ist ihre Geige für den brasilianischen Samba ein exotisches Instrument – und muss sich zwischen den Trommeln erst behaupten.

Zehn Uhr abends und immer noch 33 Grad, die Kellner der Eckkneipe kommen kaum nach mit dem Bier. Auf der Straße haben mehr als zweihundert Mann der Trommler-Batterie Aufstellung genommen, zwischendrin huscht aufgeregt ein Pulk üppiger Mulattinnen mit strassglitzernden BHs und knappen Shorts herum. Vorgefahren ist der Lastwagen von Rick Sound, der mit Wänden voller Lautsprecherboxen vollgepackt ist. Dahinter sammeln sich, aufgekratzt und fröhlich, hunderte von Menschen, denn gleich beginnt der „ensaio“, die Probe, für den Karnevalsumzug der prominenten Samba-Schule Unidos da Vila Isabel – aber was hat hier bloß die junge Frau mit dem Geigenkasten verloren?

 

Geige und Samba, das ist so wie Fisch und Fahrrad, und dennoch klettert Friederike Jurth (27) die Treppe des Lautsprecher-Lkw hoch. Oben auf der Plattform stehen die Sänger mit ihren Mikrofonen, ein paar Perkussionisten und zwei, die Cavaquinho spielen, ein viersaitiges Zupfinstrument, das zum Samba gehört wie der Samba zu Rio. Sie holt eine weiße Elektro-Geige aus dem Kasten – weiß und hellblau sind die Farben der Sambaschule von Vila Isabel - und stöpselt ihr Kabel in den Verstärker. Ein paar Sound-Checks, die unten das Bier in den Gläsern zum Schwappen bringen, einige organisatorische Ansagen, und dann kann es losgehen.

Der Samba ist flacher geworden

Die Berlinerin Jurth studiert in Weimar Musik-Ethnologie, deshalb kam sie 2011 nach Brasilien. Sie stellte erstaunt fest, dass, obwohl ihr die heutigen Sambas gut gefielen, die achtziger Jahre als die goldene Zeit verklärt werden. Tatsächlich – der Samba damals und der von heute unterscheiden sich beträchtlich, fand sie heraus.

„Dahinter steckt die Idee von der Cidade espectáculo, der Erlebnis-Stadt“, erklärt sie. Dass sich Rio im Zuge der kulturellen Globalisierung als Schauplatz der „größten Show der Welt“ darstellt, mit Fußball und Olympia, mit Karneval und Silvester-Feuerwerk, das ist eine Entwicklung, die in diese drei Jahrzehnte fällt. Darauf hat sich auch der Samba eingestellt.

Volksopern fürs Sambodrom

„Die Stücke sind schneller, sie sind kürzer, die Texte sind sprechbarer, alles in allem ist der Samba gefälliger geworden“, sagt Jurth. Und vielleicht auch etwas flacher: Wenn’s schneller gehen muss, kann die bateria, die Trommler-Truppe, „nicht mehr so viele Verzierungen spielen“. Nicht nur die Musik, sondern die ganze Faschings-Show habe sich langsam und kaum merklich dem internationalen Geschmack angepasst.

Zwölf Sambaschulen tanzen sich durch die Straße

Eine einzige Aufführung, deren Vorbereitung ein ganzes Jahr lang dauert, eine Geschichte, die zwar erzählt wird, aber keine Handlung hat, dazu eine Musik, die aus einem zweiminütigen, wie in einer Endlos-Schleife 80 Minuten lang wiederholten Lied besteht, dessen Gesang ohrenzerfetzend verstärkt und von 300 Trommlern begleitet wird und zu dem ein paar tausend Leute Samba: „Gesamtkunstwerke“ und „Volksopern“ nennt Jurth die Defilees der zwölf Sambaschulen, die in den zwei Karnevalsnächten mit jeweils rund 4000 Teilnehmern durch das Sambodrom, die 700 Meter lange Tribünenstraße in Rio, ziehen.

Man schreibt dem Karneval üblicherweise Anarchie und Regellosigkeit zu. Von wegen! „Es ist ein knallharter Wettbewerb, es geht schließlich um viel Geld, wer an die Spitze will, muss an die sieben Millionen Euro in seinen Umzug stecken“, erklärt Jurth. Das Regelwerk ist in den drei Jahrzehnten immer kleinlicher geworden. Zum Beispiel darf der Umzug nur 80 Minuten dauern, sonst gibt es Punktabzug und abgerechnet wird in Zehntelpunkten. Die Juroren sitzen auf die 700 Meter verteilt, und damit alle alles mitkriegen, muss der Samba kürzer und schneller sein.

Eine Deutsche mit „exotischem“ Instrument

Jedes Jahr ein neues Thema, jedes Jahr eine neue Musik dazu – wie entstehen die Sambas überhaupt? Zu Jurths Überraschung hat sich die Musikwissenschaft mit dieser Frage bisher kaum beschäftigt, und so begann sie ihr zweites Forschungsvorhaben. Verblüfft stellte sie fest, dass da ein bunt gemischter Haufen ans Komponieren geht: „Die wenigsten sind Berufsmusiker, und aufgeschrieben wird nichts, es geht alles nur übers Hören.“ Wenn das Thema des nächsten Umzugs bekannt ist, setzen sich solche etwas anarchischen Komponistengruppen zusammen. Dieses Jahr bei Vila Isabel an die zwanzig, die jeweils einen Samba ausarbeiten. Welcher es wird, entscheidet ein Wettbewerb.

Rivalitäten unter den Komponisten

„Bei Vila Isabel bin ich zu Hause“, sagt Jurth. Wegen ihrer Forschungen kennt sie die Schule bestens. Deshalb wurde sie von gleich zwei der rivalisierenden Komponistengruppen eingeladen, bei ihnen Geige zu spielen. Das Interesse an ihrem „exotischen“ Instrument verdankt sie dem Thema des diesjährigen Aufzugs: Vila Isabel ehrt den brasilianischen Dirigenten Isaac Karabtchevsky. Der 80-jährige Maestro hat in London und Paris, in Madrid und München, in Washington und Wien dirigiert. In Brasilien hat er sich für die Verbreitung klassischer Musik in den armen Schichten eingesetzt. Zurzeit ist er Chef eines vom Ölkonzern Petrobras finanzierten Orchesters, was für Vila Isabel eine Chance eröffnete, Sponsorengelder lockerzumachen.

Die Geige sah niemand kommen

Niemand wusste etwas von der Geige, als sie kam, bis der Karnevalsdirektor erschien: „Der hat gesagt, die Präsidentin von Vila Isabel will eine Geige, also gibt’s eine Geige.“ So kommt es, dass Jurths Platz in diesem Karneval das Oberdeck des Rick-Sound-Lastwagens ist – dort oben, wo es normalerweise weder Frau noch Geige gibt.

Halb elf Uhr nachts, immer noch 33 Grad. Die Stimme des Ansagers überschlägt sich, er beschwört die Anstrengung, den Willen zum Sieg, den Triumph von Vila Isabel, und die Anhänger auf der Straße jubeln. Dann beginnt, hoch und schnell gespielt, das Intro der Cavaquinhos. Friederike Jurth setzt den Bogen an, dann fällt erst der Sänger, gleich darauf die Trommler-Truppe ein.

Wie sich das anhört? Der Text des Sambas von Vila Isabel beschwört die harmonische Vereinigung von klassischer und Volksmusik. Aber wer die Geige hören will in diesem Karnevals-Tohuwabohu, der muss schon ein sehr geschultes Gehör haben: Brasilien, Karneval und Samba sind eindeutig die Sieger in dieser der Vereinigung geblieben.