Die nicht gemeldeten Pannen im Kernkraftwerk Philippsburg werden von Experten weitaus gravierender eingeschätzt als von Tanja Gönner.  

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die nicht gemeldeten Pannen im Kernkraftwerk Philippsburg werden von Experten weitaus gravierender eingeschätzt als von der für die Atomaufsicht zuständigen Umweltministerin Tanja Gönner (CDU). Der frühere Chef der Atomaufsicht im Bundesumweltministerium, Wolfgang Renneberg, zeigte sich verwundert über Gönners Aussage, die Vorfälle seien "nicht sicherheitsrelevant".

 

Im ZDF-Magazin "Frontal 21" sagte Renneberg: "Selbstverständlich ist ein solcher Vorgang sicherheitsrelevant. Sicherheitsrelevant sind alle Fragen, die die Zuverlässigkeit des Personals betreffen, denn wenn das Personal nicht zuverlässig handelt, dann kann eine solche Anlage auch nicht richtig und sicher betrieben werden." Deswegen verstehe er Gönners Behauptung "überhaupt nicht", fügte Renneberg hinzu.

Auch der Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital sprach gegenüber "Frontal 21" von einem "sehr sicherheitsrelevanten Vorfall". Zum Verlust von 280000 Liter Reaktorwasser aus dem Brennelementebecken sagte er: "Wenn noch mehr Wasser ausgelaufen wäre, wären die Brennelemente vielleicht frei gelegen. Das ist ein sehr gefährlicher Zustand, das ist sicherlich meldepflichtig." Nach der internationalen Skala könnte es sich sogar um ein Ereignis der Kategorien Ines 1 oder Ines 2 handeln. Dies deckt sich mit der Einschätzung anderer unabhängiger Atomexperten gegenüber der StZ. "Meiner Meinung nach hat das Ministerium hier den Vorfall vertuscht", sagte Smital.

Ministerium wartet Ermittlungen ab

Tanja Gönners Atomaufsicht hatte in allen drei Fällen eine Meldepflicht verneint. Nach den Hinweisen eines Insiders, der mehrere Grünen-Politiker alarmiert hatte, prüfen Bund und Land inzwischen die Vorfälle. Zumindest ein Ereignis sei möglicherweise doch meldepflichtig gewesen, wird bereits eingeräumt. Das Bundesumweltministerium von Norbert Röttgen (CDU) hatte bei Gönners Ressort umgehend einen Bericht angefordert. Erst nach Abschluss der "Ermittlungen" durch das Land werde man selbst eine Bewertung vornehmen, sagte ein Sprecher des Ministeriums.

Zugleich wies er den Verdacht zurück, die Aufklärung werde wegen der Landtagswahl in Baden-Württemberg verzögert: "Der Eindruck wäre unbegründet, da die Aufklärung ohne Zögern erfolgt." Allerdings gebe es dafür keine Zeitvorgaben, weil die Untersuchung gründlich erfolgen müsse, "um alle notwendigen Lernprozesse einleiten zu können". Eine Sprecher Gönners sagte laut dpa, die Aufarbeitung werde wenige Wochen dauern.

Auf der Internetseite der EnBW sind inzwischen die meldepflichtigen Ereignisse in den Atomkraftwerken aus dem Jahr 2010 abrufbar. In der Übersicht über alle Vorfälle seit 2002 hatte das zurückliegende Jahr bis vor kurzem komplett gefehlt. Auf die Anfrage nach den Gründen erhielt die Stuttgarter Zeitung von der EnBW keine Auskunft. Auf der Homepage des Landesumweltministeriums waren die gemeldeten Vorfälle dagegen auch für das vergangene Jahr aufgeführt.