Kinder sind vor Elterngewalt schlecht geschützt, sagt der Rechtsmediziner Michael Tsokos. Kindesmisshandlung sei ein elementares Problem, vor dem selbst die Richter die Augen verschließen. Tsokos fordert eine schnellere Trennung von den Familien.

Berlin - Kinder sind vor Elterngewalt schlecht geschützt, sagt Michael Tsokos. Der Rechtsmediziner fordert eine schnellere Trennung von den Familien. Tsokos ist einer der bekanntesten deutschen Rechtsmediziner. Der 47-Jährige ist seit 2007 Chef des Instituts für Rechtsmedizin der Charité in Berlin und leitet auch das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin. Sein Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ ist Ende Januar im Droemer Verlag erschienen. Er verfasste Bücher über Kriminalfälle und berät Filmemacher.

 
Herr Tsokos, Sie diagnostizieren Deutschland beim Thema Kindesmisshandlung ein „kollektives Verleugnen und Versagen“.
Kindesmisshandlung ist ein elementares Problem unserer Gesellschaft. Aber das Thema ist so stark tabuisiert, dass selbst Richter nach dem Prinzip urteilen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch in Kliniken kommt es vor, dass gewalttätigen Eltern geglaubt wird, das Kind sei einfach nur vom Sofa gepurzelt, wenn es mit schwersten Kopfverletzungen eingeliefert wird. Da wird den abstrusesten Erklärungsversuchen gefolgt, weil Eltern so etwas doch nicht machen. Statistisch gesehen ist das Gegenteil wahr: So etwas machen fast nur Väter, Mütter oder deren Lebensgefährten. Sie sind in den allermeisten Fällen Serientäter, denen unser Kinderschutzsystem ihre Opfer immer wieder zuführt.
Wo liegen die Konstruktionsfehler in diesem System?
Beispiel Jugendamt: die Mitarbeiter sind heillos überfordert mit den Fallzahlen. Und diese Kontrolleure werden gar nicht kontrolliert – außer von sich selbst. Ich habe in Dutzenden Fällen von getöteten Kindern vom Jugendamt gehört: Wir haben alles richtig gemacht. Dazu kommt, dass der Auftrag an die Wächter des Kindeswohls aufs Absurdeste von den wirtschaftlichen Interessen unterwandert wird. Die freien Träger bekommen nur so lange Geld, wie das Kind in der Problemfamilie verbleibt. Deshalb werden trotz anhaltender Gewalttätigkeiten Täter und Opfer nicht getrennt. Seit Jahren steigt die Zahl der Langzeitfälle, die von den Ämtern beobachtet werden, alarmierend an, denn mit dem Leid der Kinder wird ja Geld verdient. Die finanziellen Anreize müssten ganz anders gesetzt werden.
Michael Tsokos Foto: dpa
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, mit welch krimineller Energie Familienhelfer und Richter gezielt von Eltern getäuscht werden.
Die Klientel, mit der wir es hier zu tun haben, hat keine Skrupel, Unerfahrenheit und Unkenntnis auszunutzen. Es gibt Familienrichter, die sagen: Das Kind lacht doch die Mutter so freundlich an. Da ist so viel unvorstellbare Blauäugigkeit im Spiel. Wenn wir als Fremde diese Kinder untersuchen, drücken sie sich auch an uns, küssen und herzen uns. Das ist aber kein ungebrochenes Urvertrauen, vielmehr haben diese Kinder über Monate und Jahre gelernt: Wenn ich um Hilfe schreie, hilft mir keiner. Also versuche ich, mein Gegenüber mit Zutrauen zu entwaffnen.
Im Gesetz steht, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Wie wird dieses Recht aus Ihrer Sicht durchgesetzt?
Schwach bis gar nicht. Wenn es um Familie geht, denken alle zuerst an die Eltern. Die Kinder sind ihnen praktisch schutzlos ausgeliefert. Vor Gericht kommt es meist zu einem Freispruch zweiter Klasse, weil die Taten zwar zweifelsfrei begangen wurden, aber sich Mutter und Vater gegenseitig decken, so dass die Schuld nicht eindeutig zugewiesen werden kann. Es gäbe aber die Möglichkeit einer Verurteilung wegen Begehens durch Unterlassen, weil keiner der beiden das Kind geschützt hat. Die wird von den Richtern so gut wie nie genutzt. In Berlin habe ich das in sieben Jahren nur ein einziges Mal erlebt.
Was fordern Sie noch?
Keine Flickschusterei mehr in der Familienpolitik, sondern eine Agenda, wie das System umgekrempelt werden kann. Rechtsmedizinische Schulungen für alle, die an Schnittstellen sitzen, zum Beispiel Haus- und Kinderärzte oder Polizisten. Wir brauchen auch eine professionelle Leichenschaupflicht bei Kindern, denn Kriminologen gehen von einer hohen Dunkelziffer nicht erkannter Tötungsdelikte aus. Und wir fordern eine gesetzliche Reaktionspflicht, damit ein Kinderarzt einen Patienten bei einem konkreten Verdacht an eine Kinderschutzambulanz oder Klinik überweist. Er muss aber auch sicherstellen, dass das Kind tatsächlich dort ankommt.