Sehr spannend erzählt Ang Lee im Film „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ vom Überleben in Gesellschaft einer Raubkatze. Ein Film über existenzielle Kämpfe, über Kraftproben, vor allem aber über die Frage nach Vorherbestimmung, Führung und Gnade.

Stuttgart - Wie beginnt man eine höchst fantastische Geschichte? Indem man das Publikum mitten hinein wirft in eine Welt jenseits des für möglich Gehaltenen? Manche wird diese Methode mitreißen, andere jedoch brüskieren. Soll man also lieber im Alltäglichen beginnen und irgendwann die Schwelle zum Ungeheuerlichen überschreiten? Einige werden sich dann so an die gebotene Realität klammern, dass ihnen das Weiterschreiten in die Fantastik schwer fallen wird. Von den vielen Aspekten, die an Ang Lees „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“ zu loben sind, ist dies denn nicht der Geringste: der Film bietet einen perfekten Einstieg in eine fantastische Szenerie.

 

Alles beginnt bis zur Biederkeit harmlos. Ein Autor befragt einen Mann, der ihm eines einschneidenden Erlebnisses wegen von einem Bekannten empfohlen wurde. Es geht noch gar nicht um das Geschehen selbst, es geht um das Abtasten der Männer, ob Vertrauen möglich, ob eine gemeinsame Sprache findbar sein wird. Lee zieht das nicht hin, er fasst kurz zusammen, was sich zum abendfüllenden Theaterstück auswachsen könnte.

Als Pi Patel ins Reden kommt, beginnt er dort, wo die Glücklicheren von uns ihre Idee vom Paradies her haben, in der Kindheit und Jugend. An Pis Kindheit ist zwar noch nichts Ungeheuerliches, aber viel Exotisches, und so sind wir bereits über eine Schwelle zwischen trockener Logik und saftigem Märchen hinweg. Pi ist als Sohn eines indischen Zoodirektors in einer Ausnahmesituation groß geworden, in einer kontrollierten Wildnis. Er konnte den Blick vom Schulbuch heben und einem Tiger ins Auge sehen.

Glaubhaft und ergebnisoffen

Die 3D-Kameraarbeit von Claudio Miranda („Der seltsame Fall des Benjamin Button“), die sich sehr für den Oscar empfiehlt, schwelgt in den Farben einer fremden Welt und notiert doch aufmerksam, dass etwas morbid Hinfälliges dieses Kindheitsparadies prägt. Bald erfahren wir, dass der Zoo wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist. Der Vater packt Familie und Tiere auf ein Schiff, um in Kanada neu anzufangen.

Diesem nächsten Schritt hinaus aus dem Vertrauten lässt Lee in seiner Verfilmung des Bestsellers von Yann Martel flugs den letzten und entscheidenden folgen. Das Schiff geht unter, Pi allerdings schafft es in ein Rettungsboot. Kein anderer Mensch hat so viel Glück, dafür aber ein paar Tiere: Ein Zebra, ein Orang Utan – und ein ausgewachsener Tiger.

Nachdem Ang Lee bis hierhin demonstriert hat, wie man ins Fantastische hineinführt, demonstriert er nun, wie man eine gleichermaßen unvorstellbare wie eindeutige Situation glaubhaft und ergebnisoffen hält. Wie Pi und der Tiger um die Herrschaft im Boot ringen, wie sie immer wieder die Plätze tauschen und einander neue Grenzen ziehen (was die anderen Geretteten nicht lange überstehen), das ist ein Meisterstück der Inszenierung – wie der Bildcollage aus Realität und Computerillusion. Pi rettet sich zeitweilig auf ein Floß, aber je weiter er vom Tiger abrücken kann, desto näher kommt er den Haien.

Ein Gegenstück zu Hemingway

„Life of Pi“ ist ein Film über existenzielle Kämpfe, über Kraftproben, vor allem aber über die Frage nach Vorherbestimmung, Führung und Gnade. Mit sehr hintergründigem Humor tritt das als Gegenstück zu Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ auf. Die Natur und der Tod sind nicht mehr draußen vor, sondern mit im Boot, und kein Alter zieht Bilanz, sondern ein Jüngling bangt um all das, was ihm an Lebenszeit genommen werden könnte.

Tatsächlich wagt sich „Life of Pi“ eine Weile weiter ins Esoterische, als nüchternen Gemütern behaglich sein wird. Aber Lee inszeniert stets diszipliniert Phasen einer Gottsuche, von Spott bis Demut, und am Ende dreht er den Film mit einer makellos getimten Wendung zurück ins Diesseitige. Diesen Schluss sollte man sich keinesfalls verraten lassen, weder von rücksichtslosen Kritikern noch von schwatzhaften Bekannten. Aber weil gegen Geplapper kein Kraut gewachsen ist, hilft wohl nur, sich das früh selber anzuschauen.