Der Evangelische Kirchentag in Stuttgart war ein grandioses Fest für die Stadt. Sie wird davon zehren, kommentiert StZ-Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Nun ist er also vorbei, der 35. Evangelische Kirchentag, und es beginnt das Nachdenken darüber, welchen Platz man ihm zuweisen wird – in der Geschichte der Kirchentage, in der Geschichte Stuttgarts, in der persönlichen Geschichte jedes einzelnen Teilnehmers. Es gab viel Verbindendes: die wunderbare Sonne (Statistiker finden bestimmt bald heraus, ob wir 2015 den heißesten Kirchentag aller Zeiten erlebt haben), das erfrischende Gefühl des kalten Wassers, das man aus spontan aufgebauten Wasserhähnen zapfen konnte, die Dankbarkeit den vielen freiwilligen Helfern und Stadtbahnfahrern gegenüber, die Sonderschichten geschoben haben, der Respekt vor den Veranstaltern, die einen Kirchentag mitten in der Stadt glänzend organisiert haben, und die kollektive Heiterkeit, die aber nicht aus heiterem Himmel über die Menschen gekommen ist, sondern aus ihnen heraus gestrahlt hat. So menschlich können sie also sein, die Menschen. Man hat es kaum noch zu glauben gewagt.

 

Wer zum ersten Mal einen Kirchentag erlebt hat, dem fällt auf, wie sehr sich diese Großveranstaltung von anderen unterscheidet. Wenn, wie neulich geschehen, die australische Hardrockband AC/DC vor 100 000 Fans am Hockenheimring spielt, dann berauscht sich das Publikum an einem Konzert, das für alle gleich am selben Ort stattfindet. Oder wenn Mario Götze das 1:0 im WM-Finale schießt: Dann verfällt die ganze Fußballrepublik in kollektiven Jubel über ein singuläres Ereignis.

Jeder nimmt seine eigenen Bilder mit nach Hause

Beim Kirchentag ist das anders. Von dort geht jeder Teilnehmer mit seinen eigenen Bildern nach Hause. Der Stiftskirchenpfarrer wird sich ewig daran erinnern, wie er seinen Kirchturm erklommen hat, um von oben den Eröffnungsgottesdienst auf dem Schlossplatz zu beobachten, als plötzlich die sechs Tonnen schwere Glocke namens Osanna ihren ohrenbetäubenden Dienst aufnahm und den Kirchentag im Wortsinne einläutete. Andere werden die Rede des Friedensnobelpreisträgers Kailash Satyarthi im Sinn behalten und darüber nachdenken, was sie gegen Kinderarbeit tun können. Lauter ganz persönliche Eindrücke sind das, die noch wertvoller werden, weil man sie mit anderen teilen kann. Auch deswegen ist der Kirchentag etwas Besonderes: Er ist ein individuelles Erlebnis im Kollektiv.

Und doch gibt es einen Mittelpunkt: Gott. Denn natürlich ist der Kirchentag auch eine fromme Angelegenheit. Natürlich dient er den Christen zur Selbstvergewisserung. Und natürlich steht die Kirche gerade deswegen immer wieder in der Kritik. Weil ihre Schafe angeblich zu nett zueinander sind. Doch dürfen auch zwei Gegenfragen erlaubt sein. Die erste: welche andere Organisation schafft es, eine so hochkarätige Riege an Politikern, Philosophen, Wissenschaftlern, Managern und Theologen aufzubieten, die kontrovers diskutieren und in ihrer Verschiedenheit eine ungeheure Weite erreichen? Die zweite: was spricht dagegen, dass auch evangelische Christen eine Gelegenheit suchen, um ihren inneren Kompass zu justieren? Gerade in diesen turbulenten Zeiten ist es doch unabdingbar, einen stimmigen Wertekanon zu haben. Zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage. Wer, wenn nicht die Christen, sollte sich in Anbetracht des Stroms von Menschen in Not, an das Gebot der Nächstenliebe erinnern – und danach handeln?

Die Wurzeln Stuttgarts sind protestantisch

Einerseits geschieht das in Stuttgart in bisweilen sogar vorbildlicher Weise. Die Stadt ist so bunt wie nie zuvor. Das liegt auch daran, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger der Wurzeln ihrer Stadt erinnern – und die sind protestantisch. Andererseits hat die Toleranz unter dem Streit um einen Bahnhof extrem gelitten. Wie wohltuend war es da, auf dem Kirchentag zu erleben, wie respektvoll die Menschen selbst dann miteinander umgegangen sind, wenn sie unterschiedlicher Meinung waren. Auch wenn die Gäste jetzt abreisen: Dieser Respekt darf gerne bleiben.