K.o.-Tropfen-Opfer Jochen Wier Neustart nach dem Blackout

Es läuft bei Jochen Wier: Drei Marathons hat er in diesem Jahr bereits absolviert. Foto: Peter Dorn

Jochen Wier wird im Alter von 19 Jahren Opfer einer heimtückischen Attacke. Mit schwersten Verbrennungen wird er auf dem Dach einer S-Bahn gefunden, verliert einen Arm und beide Unterschenkel. Er findet zurück ins Leben – und läuft nun Marathon.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart/Heidelberg - Eine Bar in Bad Cannstatt. Es ist laut. Bier fließt. Alle tanzen. Dann wird es dunkel für Jochen Wier. Als er wieder aufwacht, hat er einen schweren Unfall hinter sich, ihm fehlen die Unterschenkel beider Beine und der linke Arm. Was dazwischen geschehen ist, bleibt in weiten Teilen ein Rätsel. Nur so viel ist klar: Es müssen K.-o.-Tropfen in seinem Getränk gewesen sein.

 

Aufmerksamen Passanten verdankt der 19-Jährige sein Leben. Sie wählen den Notruf, weil sie einen Menschen auf dem Dach einer S-Bahn liegen sehen. Im Wald bei Stuttgart-Vaihingen entsteht ein sogenannter Lichtbogen über dem Zug, auch dieses seltene Phänomen hat jemand gesehen und der Polizei gemeldet. Von der Hochspannungsleitung war Strom auf den Körper von Jochen Wier übergesprungen – ein lebensbedrohlicher Schlag. 37 Prozent seiner Hautfläche wurden dabei verbrannt. Rettungskräfte holen ihn in Böblingen am Bahnhof vom Zug. Nur mit der Amputation der am schwersten verbrannten Gliedmaße können die Ärzte sein Leben retten. Jener Tag, der 16. Mai 2010, verändert das Leben des jungen Mannes komplett.

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Etliche Fragen drängen sich danach auf: Wer hat die Tropfen in das Getränk geschüttet? Wie kam Jochen Wier von der Bar zum Bahnhof? Warum haben seine Freunde ihn nicht mehr gesehen? Ist er selbst auf den Zug geklettert oder hat ihn jemand hochgehievt oder von einer Brücke runtergestoßen? Hat er Drogen genommen oder zu viel Alkohol getrunken?

Die Ermittlungen werden eingestellt

Jochen Wier sucht in den folgenden Monaten nach Antworten, findet aber nicht viele. Bis heute weiß er lediglich, was seine Freunde in jener verhängnisvollen Nacht dachten: „Die haben sich noch kurz gewundert, dass ich wohl doch heimgegangen bin, denn eigentlich wollte ich bei jemand übernachten.“ Und er hat erfahren, was in den Stunden nach dem Unfall mit ihm geschehen ist: „Ich wurde sehr schnell gefunden. Deswegen konnte man nachweisen, dass ich nicht viel getrunken hatte – und dass die K.-o.-Tropfen im Blut waren.“ Eine Erkenntnis aus dem Bluttest ist ihm besonders wichtig: Man habe nachweisen können, dass er kein Drogenkonsument war, sondern nur ein einziges Mal die Tropfen verabreicht bekommen hatte.

Die Polizei kommt nicht weit, stellt nach einigen Monaten die Ermittlungen ein. Befragungen der Freunde, die in der Bar dabei waren, und Zeugenaufrufe führen nicht weiter, und Jochen Wier kann sich an nichts erinnern – eine Folge der K.-o.-Tropfen: Die Substanz führt zu Gedächtnislücken und Bewusstseinsverlust.

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Rund 300 Fälle von heimlich verabreichten K.-o.–Tropfen pro Jahr – Tendenz steigend – registriert das Landeskriminalamt. Wie hoch die Dunkelziffer ist, vermag niemand zu sagen. Die Substanz ist nur sehr kurz nachweisbar. Wenn zwischen der Verabreichung und dem Gang zur Polizei mehr als drei bis fünf Stunden verstreichen, finden die Kriminaltechniker nichts mehr. Hinzu komme, dass viele Opfer nicht wissen, dass die Tropfen im Spiel waren, und sich ihren Blackout anders erklären, sagt ein Sprecher des Landeskriminalamts Baden-Württemberg.

Willenlose Opfer

Der aktuell brisanteste Fall ist der einer Gruppenvergewaltigung in Freiburg. Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklage den Vorwurf erhoben, die Täter hätten ihr 18 Jahre altes Opfer mit der Substanz gefügig gemacht. Die Tropfen werden auch Vergewaltigungsdroge genannt, eben weil der häufigste Tatbestand der ist, dass Sexualstraftäter damit ein Opfer willenlos machen. Den Tätern spielt es dabei in die Karten, dass Gedächtnislücken zu den Wirkungen des Mittels zählen. In Stuttgart erweckte vor gut zwei Jahren ein Fall Aufsehen, bei dem eine Frau mitten in der City von mehreren Männern regelrecht abgeschleppt wurde – sie vergingen sich danach an ihr. Auch hier konnten kurz nach der Tat die Tropfen nachgewiesen werden.

Warum Jochen Wier K.-o.-Tropfen verabreicht wurden, wird er vermutlich niemals erfahren. Er sagt, dass er mit diesem ungelösten Rätseln leben könne: „Viele verstehen das nicht. Aber mit dem Schicksal zu hadern bringt ja nichts, davon wird ja nichts anders.“

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Als er aus dem künstlichen Koma aufgewacht war, richtete sich sein Blick sofort nach vorne. „Ich war glücklich und fröhlich, dass ich lebe“, erzählt er. „Erst an zweiter Stelle standen die Unsicherheiten und Fragen, wie es nun weitergehen wird.“ Der heute 28-Jährige kann sogar darüber lachen, dass es ausgerechnet den linken Arm erwischt hat: „Ich war Linkshänder.“ Als Jochen aufwachte und die Lage erfasst hatte, fragte er nach Stift und Papier – um testen zu können, wie brauchbar die rechte Hand ist, die ihm geblieben ist.

Ein neues Leben

Die Erleichterung nach dem Erwachen sei auch deswegen so groß gewesen, weil er im künstlichen Koma mitbekommen habe, wie er operiert wurde. Die Säge am Knochen habe er beispielsweise gespürt – „so ein unangenehmes Scharren und Kratzen wie bei einer Zahnwurzelbehandlung“. Unter Einfluss der Narkotika habe er befürchtet, dass er entführt worden sei und Forscher brutale Experimente an ihm durchführen würden.

So sehr andere geschockt sind, wenn sie vom Schicksal des jungen Mannes aus Weil im Schönbuch erfahren, so sehr hat er selbst damit seinen Frieden gefunden: „Das war ein kurzer schmerzhafter Abschnitt, ich lasse mir davon doch nicht mein Leben bestimmen.“

Geändert hat er es trotzdem. Er habe nun ein besseres Leben, sagt Jochen Wier, dessen sei er sich sicher. „Ich habe einen effektiven Lernprozess durchgemacht.“ Klar und bewusst möchte er durch das Leben gehen, Kultur, Natur und Freundschaften genießen. „Ich trinke vielleicht noch ein Bier im Jahr“, sagt er. „Die Realität ist doch viel schöner, wenn man sie nüchtern erlebt. Ich wünschte, ich hätte das vor dem Unfall schon so gesehen.“ Manchmal stößt er mit dieser Einstellung auf Unverständnis. „Mag sein, dass manche mich für einen Spießer halten. Das ist mir egal.“

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Seinen Freundeskreis hat er neu sortiert. „Ich bin offener geworden für Menschen“, sagt er. Andererseits hält er Leute, die ihm nicht guttun, von sich fern. „Energievampire“, die nur negative Stimmung verbreiten, hätten in seinem neuen Leben keinen Platz.

Der Weg zum Marathonmann

Vieles hat er also verändert seit dem 16. Mai 2010, auch seinen Beruf. Jochen Wier, der Linkshänder, schließt zwar nach dem Unfall zunächst seine Konditorlehre mit nur einem Arm ab. Doch dann entscheidet er sich, etwas anderes zu lernen, etwas, bei dem er die Beine weniger stark belasten muss. Zwar kann er stehen und gehen, doch am Anfang sind die Stümpfe noch empfindlich. Jochen Wier zieht nach Heidelberg und wird nach einer weiteren Ausbildung Sachbearbeiter im Sozial- und Gesundheitswesen.

In Heidelberg findet Jochen Wier zum Sport. Erst Sitzvolleyball, dann Langstreckenlauf. Neben dem Lauftraining entdeckt er auch seine Leidenschaft für den Triathlon, fährt einhändig Rad und zieht sich mit dem einen starken Arm, der von Brandnarben überzogen ist, durchs Wasser. Er ist nun ein Sportler, der die Extreme liebt: In diesem Jahr absolviert er drei Marathonwettbewerbe, jüngst den Berliner. Der Mann, dem das Schicksal durch eine Wahnsinnstat zunächst enge Grenzen gesteckt hat, ist nun überzeugt, dass man an seine Grenzen gehen muss.

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„Ich will Menschen um mich haben, die mich weiterbringen“, sagt Jochen Wier. Seine Trainingsgruppe beim SRH Campus Sports zum Beispiel, die ihn zu Höchstleistungen motiviert. Den Deutschen Meistertitel im Para-Marathon für Menschen mit Beinamputationen hat er bereits gewonnen. Nun möchte er noch höher hinaus. In fünf Jahren will er bei den Paralympics im Pariser Stade de France an den Start gehen.

Angst vor falschen Beschuldigungen

Sein Durchhaltevermögen ist auch eine Folge der Erfahrungen, die er nach dem Unfall notgedrungen sammelte. Zunächst musste er einige Rückschläge einstecken. So schnell wie möglich wollte er wieder laufen, doch die Ärzte bremsten ihn: Er müsse die Stümpfe schonen und abwarten, bis die Operationsnarben verheilt seien. Folglich musste er die Prothesen häufig in der Ecke stehen lassen und war zum Rumsitzen verdammt.

Heute läuft es bei Jochen Wier rund. Er schaue stets nach vorne, finde immer wieder neue spannende Perspektiven und Möglichkeiten, um seine Träume zu verwirklichen. Einen Wunsch konnte er sich bisher allerdings nicht erfüllen: Jochen Wier würde sich gerne mit anderen K.-o-Tropfen-Opfern vernetzen, sich austauschen und sich dabei vielleicht auch gegenseitig die Scham nehmen. Doch das ist kein leichtes Unterfangen. Viele trauen sich nicht, über ihr Horrorerlebnis zu sprechen – auch weil sie befürchten, dass sie sich dadurch falschen Beschuldigungen aussetzen. „Das kenne ich aus eigener Erfahrung“, sagt Jochen Wier. „Ich wurde seinerzeit verdächtigt, ein S-Bahn-Surfer zu sein.“

Jochen Wier hat es gelernt, sich von dem Urteil anderer Menschen vollkommen unabhängig zu machen. Zielstrebig verfolgt er seinen Weg, und zwar im Laufschritt. „Heute werde ich nur acht Kilometer zurücklegen“, kündigt er an. Auf fünf Kilometer handelt ihn seine Trainerin daraufhin runter: Ihr ehrgeiziger Schützling habe in den zurückliegenden Tagen etwas müde gewirkt. Lachend läuft Jochen Wier los, federnd tragen ihn die Prothesen über die Kunststoffbahn, wie ein Pendel unterstütze sein verbliebener Arm jeden seiner großen Schritte.

An der Schwelle vom Jugendlichen zum Erwachsenen wurde Jochen Wier Opfer einer heimtückischen Attacke. Insgeheim, sagt er, hege er die Hoffnung, dass der Täter sich eines Tages doch noch bei ihm melde. „Ich möchte einfach mit ihm reden.“ Nicht um Bestrafung oder Rache gehe es ihm. „Ich will verstehen, warum jemand so etwas macht. Was er gedacht hat, als er die K.-o.-Tropfen klammheimlich in mein Bierglas tat, was einen Menschen dazu bewegt, einem anderen Menschen ohne Grund zu schaden.“

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