Wer als Elternteil was auf sich hält, liest seinem Nachwuchs vor. Warum wir uns dieses Ritual bis heute erhalten haben.

Stadtleben und Stadtkultur : Alexandra Kratz (atz)

Der Tag unserer vierköpfigen Familie ist durchgetaktet. Unter der Woche bleibt – sehr zum Bedauern aller – nicht so viel Zeit für gemeinsame Momente. Wobei das meine Kinder wahrscheinlich mit jedem Tag, an dem sie größer und selbstständiger werden, ein kleines bisschen weniger schlimm finden. Aber eine Sache haben wir uns bis heute erhalten: am Abend wird vorgelesen. Dann kuschele ich mich mit meinen beiden Töchtern ins große Bett, die Zehnjährige liegt links und zieht Papas Steppdecke über ihren Kopf. Die 13-Jährige und ich teilen uns mein Federbett. So ist das immer schon gewesen, und es gibt nur wenige Tage im Jahr, an denen wir dieses Ritual ausfallen lassen.

 

Natürlich hat sich mit den Jahren die Literatur geändert – und dafür bin ich echt dankbar. Als meine Töchter noch klein waren, habe ich über Monate hinweg Conni-Bücher vorgelesen. Logisch, dass Kinder Conni lieben, denn das „Mädchen mit der Schleife im Haar“ kann alles, darf alles, bekommt alles. Conni spielt Fußball, lernt reiten, darf die zugelaufene Katze behalten – die Liste lässt sich endlos fortführen. Und Mama (natürlich Ärztin) und Papa (hatte bestimmt auch einen tollen Job, ich habe aber verdrängt, welchen) haben immer gute Laune und sind nie genervt. Natürlich wollten meine Kinder sein wie Conni – und insbesondere ein eigenes Pony haben (Conni hätte bestimmt eins bekommen, wenn sie nur danach gefragt hätte). So viel heile Welt war kaum auszuhalten.

Vom Klassiker bis zur Neuerscheinung

Aber wir haben auch viele ganz tolle Bücher gelesen – vom Klassiker bis zur Neuerscheinung. Im elterlichen Schlafzimmer haben wir mit dem zutraulichen Mädchen Heidi das Leben in den Schweizer Alpen kennengelernt, sind mit der stolzen Colliehündin Lassie zumindest in Gedanken 600 Kilometer vom Schottischen Hochland zurück nach Yorkshire gelaufen und haben mit der Räubertochter Ronja einige Monate lang in wildromantischen und zuweilen sehr unheimlichen Wäldern zugebracht. Die meisten Klassiker kannte ich aus meiner Kindheit. Doch viele haben jetzt, da ich erwachsen bin, eine ganz andere Wirkung auf mich. Es lohnt sich, diese Bücher noch einmal in die Hand zu nehmen!

In der Coronazeit haben meine Kinder und ich alle Harry-Potter-Romane und weitere Werke von J.K. Rowling verschlungen (es gab ja sonst nicht viel Zerstreuung). Meistens bin nach wie vor ich es, die vorliest. Aber aktuell lesen wir „Das verwunschene Kind“, den achten Teil der Harry-Potter-Saga, und die gibt es nur als Theaterstück. Also teilen wir vor jeder Szene die Rollen auf und lesen die Dialoge dann gemeinsam.

Manchmal schwant mir, dass diese gemeinsamen Vorlesestunden bald der Vergangenheit angehören werden, dass das meinen Mädchen bald zu uncool wird. Oder aber, dass sie sich ausschließlich für Bücher interessieren, mit denen ich nichts mehr anfangen kann.

Aber egal wie, jeder Moment war ein Gewinn. Wir haben so viel gelernt darüber, dass es nicht immer nur Gut und Böse gibt, über Mut, Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Es ist immer ein Augenblick des Innehaltens im durchgetakteten Alltag unserer Familie.

>> Keinen Familien-Newsletter mehr verpassen – hier geht es zur Anmeldung

Alexandra Kratz hat zwei Töchter, die sich der Pubertät annähern beziehungsweise diese bereits ausleben. Allzu oft erkennt sie sich dabei selbst in ihren eigenen Kindern wieder.