Zwilling Nummer eins (fünf Minuten älter, drei Zentimeter größer) erzählte mir kürzlich aus dem Reliunterricht. Man sollte sich auf Punkten im Klassenzimmer verteilen, je nachdem, wie gerne man seine Geschwister hat. Es gab die Optionen: „Mal so, mal so“, „Eher nicht so“ und „Weiß ich nicht“. Unsere Tochter stellte sich bei „Weiß nicht“ hin und erklärte der Religionslehrerin auf Nachfrage, sie möge ihre Zwillingsschwester im Großen und Ganzen doch meistens ganz gern und habe sich daher auf den anderen Punkten nicht gut verortet gesehen.
Ich weiß nicht, wie es der Lehrerin ging, aber mir als Mutter ging verständlicherweise das Herz auf. Vor allem, weil ich sie natürlich im Ohr habe, die „Hör auuuuuuf-s“, die „Du bist so was von kacke-s“, die „blöde Kuh-s“ – und das sind nur die Beschimpfungen, die ich hier guten Gewissens schreiben kann. Kurze Zeit später liegen die Schwestern dann wieder kichernd auf der Couch und außer ihnen kapiert keiner, was denn gerade wieder so unheimlich witzig ist.
Ich musste danach über Geschwister nachdenken. Wenn es gut läuft, haben wir mit niemandem eine längere Beziehung als mit unseren Schwestern oder Brüdern. Keiner kennt uns besser, keiner trifft gezielter unsere wunden Punkte. Mit niemandem zoffen wir uns doller. Aber wenn’s hart auf hart kommt, steht – wie gesagt: wenn’s gut läuft – auch niemand selbstverständlicher an unserer Seite parat.
Als Kinder gehen Geschwister manchmal nicht eben zimperlich miteinander um: Ein Lieblingsspiel meiner beiden älteren Schwestern war es, mit mir, dem deutlich jüngeren Nachzügler, Kidnapping zu spielen. Die eine entführte mich, fesselte mich an einen Stuhl und schrieb einen Erpresserbrief. Die andere sollte dann das Lösegeld übergeben, um mich zu befreien. Einmal verloren beide mitten im Spiel das Interesse, zogen von dannen und ich musste mich schließlich mit einer stumpfen Bastelschere selbst meiner Fesseln entledigen. Sie hatten mich schlicht und einfach vergessen. 35 Jahre später geben diese kleinen geschwisterlichen Grausamkeiten sehr unterhaltsame Anekdoten ab.
Jetzt habe ich einen Logenplatz zu der vielleicht innigsten Geschwisterbeziehung überhaupt: der von Zwillingen. Ich staune, wie vertraut meine Töchter miteinander sind. Wie sie instinktiv spüren, wenn die andere ein nettes Wort braucht – oder ein saures Colafläschle. Und wie unterschiedlich sie sind, obwohl viele Außenstehende sie rein optisch nicht auseinanderhalten können und verschämt fragen: „Welche bist du noch mal?“
Ich frage mich häufiger, wie sich das wohl aus der Innensicht anfühlt. Eine Kollegin, die selbst Zwilling ist, hat es mir erklärt: „Zwilling zu sein“, sagt sie, „bedeutet im ‚wir’ zu leben. Man spricht im Plural, man denkt im Plural. Du bist nie alleine und das kann schön und schrecklich sein. Für dich ist es völlig normal. Du musst nicht alleine zur Einschulung und nicht alleine zur Führerscheinprüfung. Und: Es ist super faszinierend als Jugendliche das ‚ich’ kennen und lieben zu lernen. Und im Herzen immer noch ganz stark das ‚wir’ zu fühlen.“ Was sie mir auch versichert hat: Selbst an die Frage „Welche bist du noch mal?“ gewöhnt man sich irgendwann.
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Theresa Schäfer (42) ist Mutter von Zwillingen – und Redakteurin im Nebenberuf. Der geballten Power und argumentativen Logik von zwei Elfjährigen steht sie oft staunend und manchmal völlig geplättet gegenüber.