Kolumne Jörg Scheller Männlichkeit in der Krise
Werden die alten Männlichkeits-Ideale für abgeschafft erklärt, droht eine Renaissance. Und selbst simulierte Männlichkeit alter Schule kann reale Folgen haben.
Werden die alten Männlichkeits-Ideale für abgeschafft erklärt, droht eine Renaissance. Und selbst simulierte Männlichkeit alter Schule kann reale Folgen haben.
In der westlichen Moderne bleibt nichts beim Alten. Alles kommt auf den Prüfstand, nichts ist selbstverständlich, alles wird einem Redesign unterzogen. Biografie wird zum Projekt, Geschlecht wird zur Verhandlungssache, Klima wird zur Ingenieursaufgabe.
Das unterscheidet unsere brummkreiselige Epoche von früheren Epochen, die unter den Zeichen des Ehernen und Altehrwürdigen, des Unveränderlichen und Gottgegebenen standen. Und weil die Moderne nun mal so ist, wie sie wird, darf sich auch jenes Wesen, das sich recht lange an Restbestände des Stabilen und Selbstverständlichen zu klammern vermochte, nicht mehr in Sicherheit wiegen: der Mann.
Seit einigen Jahren bersten die physischen und virtuellen Bücherregale vor Männerliteratur: Was ist ein Mann? Was darf ein Mann? Wie wird ein Mann? Was muss ein Mann? Was wird der Mann sein? Von gekränkter Männlichkeit ist die Rede, von verunsicherter Männlichkeit, von toxischer Männlichkeit, vom Ende der Männer, vom neuen Mann, von Criticial Masculinity Studies, von mehr Männlichkeiten.
Für den Mann von heute gilt, was Arnold Gehlen der Kunst der Moderne attestierte: Er ist unwiderruflich „kommentarbedürftig“. Mit dieser Fluid- und Reflexivwerdung des Mannes ist der Siegeszug der westlichen Moderne komplett. „Alles Stehende und Ständische verdampft“, hieß es 1847 im Kommunistischen Manifest über die Ära des dynamischen Kapitalismus und die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie.
Doch was die einen als Zeichen des Fortschritts feiern, dürfte unerwartete Nebenwirkungen haben. Denn genau in dem Moment, da sowohl biologisches als auch soziales Geschlecht selbst konstruiert und produziert werden, können ausgerechnet alte Männlichkeitsideale eine Renaissance erleben. Ist Männlichkeit nicht mehr „natürlich“ oder „gottgegeben“, so wird sie attraktiv für jene, denen der Sinn nach Herausforderungen, Kämpfen, heroischen Abenteuern steht. Männlichkeit gibt’s nicht mehr geschenkt, sie muss erobert werden!
Und mehr noch: Aus der Komfortzone des Einfach-so-seins hinausgestoßen, könnten sich manche Zeitgenossen umso mehr mit ihrer Identität, die sie zu verlieren glauben, identifizieren. Nostalgie folgt dem Wandel auf dem Fuße. Die Reflexivwerdung des Mannes muss somit nicht das „Ende der Männer“ bedeuten, wie es die Autorin Hanna Rosin diagnostizierte. Sie kann auch den Beginn einer Männlichkeit zweiter Ordnung einläuten.
Zwar wäre die neue Männlichkeit keine – angeblich – natürliche mehr, sondern eine simulierte. Aber auch Simulationen haben überaus reale Folgen.