Kinder und Nachrichtenmagazine – das kann eine fatale Mischung sein. Unser Kolumnist Martin Gerstner kommt bei all dem Schrecken, von dem berichtet wird, manchmal in Erklärungsnot.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Irgendwie war damals alles aufgeräumter. Nein, wir sprechen jetzt nicht vom Chaos im Kinderzimmer, sondern vom Zustand der Medien. Damals gab es die Tageszeitung, die der Vater morgens las und dann sorgfältig gefaltet beiseitelegte, das Telefon war im Flur angekettet und machte jedes Gespräch öffentlich, drei muffige Fernsehkanäle schwitzten teigige Verlautbarungen und bräsige Witzeleien aus, und am Kiosk hingen entblößte Brüste immer ganz oben rechts – waren also unerreichbar. Heute brabbelt, blubbert, explodiert und penetriert es 24 Stunden täglich, multimedial. So weit so schlecht.

 

Im Hamsterad von Job und Familie

Es wäre nun ein Leichtes, in eine misanthropische Endlosschleife über die geistige Verwahrlosung der Jugend durch ungehemmten Medienkonsum einzutreten. Aber hängt nicht alle Welt an den Austrittskanälen des digitalen Fleischwolfs, macht sich nicht jeder schmatzend über die mediale Dauerwurst her? Kinder eben auch – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sollen sie? Ja, so heißt es von Experten, im Prinzip schon, aber man solle das steuern.

Leicht gesagt. Im Hamsterrad von Job und Familie bleibt für den Aufbau durchdachter Medien-Leitplanken wenig Spielraum. Was zu solchen Gesprächen führt: Ob es immer noch Kinderheime gibt, fragt die Tochter. „Nun ja“, so die Antwort, „Heime so wie früher eigentlich nicht, aber wenn die Kinder nicht mehr zu Hause wohnen können, weil die Eltern sich nicht kümmern . . .   oft sind das solche betreuten Wohngemeinschaften . . .“ Darauf die Tochter: „Also nicht so wie in diesem Heim in Amerika, wo den Kindern die Zähne ausgeschlagen . . .“ – „Was?! Woher weißt du . . .“ – „Da stand so eine Geschichte im ,Spiegel‘ . . .“ - „Im ‚Spiegel‘?“ – „Ja, der liegt doch auf dem Wohnzimmertisch. Da stand auch, dass sie einem Amerikaner den Kopf abgeschnitten haben. Und dieses Bild aus der Zeitung – ist das Mädchen von einer Granate getroffen worden? Und, schau mal, in einem Zoo haben sie Esel angemalt und als Zebras ausgegeben.“ Granaten, Enthauptungen und falsche Zebras: das große Welttheater in seiner ganzen Grausamkeit und Skurrilität zieht auch vor Kindern den Vorhang auf. Und die Eltern haben gar nicht so viele Arme, um all die Dämonen wieder in ihre Löcher zurückzudrücken, die sich in hämischer Allgegenwart medial auftun.

Der Verlust der kindlichen Unschuld

Aber ist der Wunsch der Eltern, die reine Unwissenheit ihrer Kinder zu erhalten, nicht weltfremd? Schließlich wohnen auch die Großen dem tollwütigen Treiben von Machthabern, Prominenten, Deppen und Diven tagaus, tagein mit unzerstörbarem Gleichmut bei. Allenfalls quirlen sie in ihrer medialen Loge einige Kommentare wie: „Furchtbar diese Flüchtlingsströme“ – „das Land kommt aber auch nicht zur Ruhe“ – „und unsere Regierung tut mal wieder nichts“ in die Unterhaltung.

So richtig tolle Vorbilder sind wir also nicht. Dennoch schmerzt es, Zeuge des Verlusts der kindlichen Unschuld zu sein, jenes untrennbaren Teils des Erwachsenwerdens. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Den „Spiegel“ räumen wir jetzt weg. Und die Nummer mit dem Zebra-Esel ist wirklich geschmacklos.