Kinder lesen nicht – und wenn, dann das Falsche, so die Klage. Mal langsam! Nie war die Welt des Kinderbuchs so vielfarbig schillernd, so bunt, interessant, kreativ und auch pädagogisch wertvoll wie heute, meint unser Kolumnist.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Die Lage ist ernst. An die Gestade der Bildungsbürgerlichkeit – die Kinderzimmer der Mittelschicht – brandet eine auf niederste Instinkte abzielenden Reizlawine, die der Schlund des Internets unablässig ausspeit. Dazu kommt das 24-stündige Dauerfeuer des Fernsehens, mit dem die Programmmacher die Gehirne unserer Kinder mit asiatischen Zeichentrickfilmen und Musikvideos verkleben. Die mächtigen Konkurrenten des gedruckten Worts hätten längst den Sieg errungen, so die alarmistische Analyse. Das wiegt umso schwerer, als alle Erwachsenen bekanntlich auf eine makellose Bildungskarriere zurückblicken. Kaum hatten sie in ihrer Jugend mit nie erlahmender Akribie lateinische Vokabeln gepaukt und waren glückselig durch das Labyrinth binomischer Formeln getaumelt, warfen sie den Schulranzen in die Ecke und stürzten sich mit unstillbarer Begeisterung auf „Wilhelm Meister“, Kafka und das „Nibelungenlied“.

 

Sie meinen hier, Ironie zu spüren? Mm, ja, stimmt. Die kulturpessimistische Ekstase, in die sich die Erwachsenenwelt gern hineinfantasiert, wird nämlich durch einige merkwürdige Phänomene konterkariert. Zu beobachten beispielsweise in öffentlichen Bibliotheken, wo an jedem beliebigen Tag Kinder und Jugendliche mit jenem entrückten Gesichtsausdruck auf Sitzkissen lagern, der signalisiert: Ich bin eurer Welt vorübergehend abhandengekommen. Grund für diesen Welt-Eskapismus ist das schlichte Buch. Es ist beliebt wie immer – und der Nachschub ist gesichert: Wer eine Suchmaschine mit den Worten „Kinder und Bücher“ füttert, bekommt rund 15 Millionen Ergebnisse.

Iist das wirklich Literatur? Dieser Potter!

Ja schon, so der Einwand. Aber ist das wirklich Literatur? Dieser Potter! Geflügelte Drachen, Leichen, Folter, der Tod geliebter Menschen. Und die übrige Jugendliteratur handelt von Scheidungsfamilien, Sex und Bandenkriminalität. Das erinnert stark an die Klage unserer Eltern, die zwar den ganzen Bücherschrank voller Konsaliks und Simmels hatten, aber kritisch auf die speckige Henry-Miller-Taschenbuchausgabe blickten. Der Bildungspessimismus überdauert Generationen. Völlig unbegründet ist er mit Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur. Die Behauptung sei gewagt: Nie war die Welt des Kinderbuchs so vielfarbig schillernd, so bunt, interessant, kreativ und meinetwegen auch pädagogisch wertvoll wie heute.

Skeptikern sei empfohlen, einmal einzutauchen in die Welt der Potters, Slytherins und Dumbledores, die präzise Melancholie der „Wilden Kerle“ zu erspüren oder den kleinen Finger in den Rachen eines dreidimensional ausgeklappten Tyrannosaurus zu stecken. Von der ungebrochenen Leuchtkraft der alten Klassiker von „Pippi Langstrumpf“ bis zum „Sams“ gar nicht zu reden. Fast alle dieser Meisterwerke gehorchen dem alten Prinzip der Parzivalsage: Der Held, er weiß anfangs noch nichts von seiner Berufung, zieht hinaus und besteht zahllose Abenteuer – am Ende ist er sich selbst und seiner Bestimmung nahegekommen, gewinnt Erkenntnis, Kraft und ein Bewusstsein für den Wert von Freundschaft und Liebe.

Kommt Ihnen interessant vor? Einfach mal lesen!