Eine gewisse Verwahrlosung hat sich in den deutschen Alltag eingeschlichen und gilt doch mittlerweile als normal – beklagt unsere Kolumnistin.

Stuttgart - An einem dieser trüben Wintertage, beim Stöbern in alten Papieren, fiel mir wieder einmal ein vertrautes Foto in die Hand. Darauf sieht man meinen Vater zur Sommerzeit in einem hochgeklappten Liegestuhl sitzen. Um ihn herum sprießt das Gras. Ein paar Rosen sind aufgeblüht. Und er, in seinem feschen Glencheck-Anzug, mit weißem Hemd, Krawatte und Einstecktüchlein, könnte Gast auf einer vornehmen Party sein. Doch wie ich aus seinen Erzählungen weiß, hält die Aufnahme nur einen ganz alltäglichen Verwandtenbesuch fest. So fesch und elegant gekleidet ging man damals, Anfang der dreißiger Jahre, aus dem Haus. Das war Standard. Sogar die Mafiosi trugen Hüte, während sie ihre Rivalen abknallten.

 

Würde sich ein junger Mann heute im Garten seiner Tante in einen Liegestuhl setzen, er trüge Jeans, ein schlabbriges Sweatshirt oder einen Pullover mit darunter hervorhängendem, zerknittertem Hemd. Über die nackten Füße hätte er sich Turnschuhe gestreift, wie weiland Joschka der Große bei seiner ersten Vereidigung als Minister im Hessischen Landtag. Derart leger ausstaffiert könnte er sich nicht nur unter Verwandten, sondern auch beim Einkaufen, bei der Arbeit und sogar in der Oper bewegen.

Einige männliche Exemplare dieser lässigen Spezies sah ich just dort zu Silvester. Erhobenen Hauptes durchkreuzten sie in der Pause die Pulks des glitzernden Durchschnittsvolks. Seht her, ihr Spießer, wir sind das moderne Leben, wir haben die Zukunft in der Tasche; Sitten und Gebräuche sind uns schnuppe. Wir pfeifen auf die bürgerliche Norm. Wir sind wir. Wir haben recht. Wir sind die Guten – nein, mehr: Wir sind die Besseren.

Der Schlamperlook als Zeichen einer verbreiteten Beliebigkeit

Das mag ja sein, in dieser oder jener Hinsicht. Doch während mein Krawattenvater auf dem Foto im Tanten-garten für eine Epoche Parade sitzt, die es mit Ordnung, Disziplin und Regeln tödlich ernst nahm, erzählt der modische Schlamperlook unserer Zeit ebenfalls eine keineswegs harmlose Geschichte. Er ist ein Zeichen der verbreiteten Beliebigkeit, des „Alles ist möglich“, des „Jeder kann machen, was, er will“. Hieß es damals „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, so sieht man heute, wie sich jeder Hinz und jeder Kunz alles erlaubt, der Staat hingegen, seine Organe und die Gemeinschaft der Verachtung preisgegeben sind. Nach dieser Lebensart darf sich jeder Mensch ausleben, austoben, andere nach Trump’scher Manier herabsetzen und die Ressourcen der Gesellschaft nach Strich und Faden ausbeuten.

Nichts anderes geschieht, wenn solche Übersteigerten ausgerechnet an Hilfskräften, Lebensrettern, Sanitätern, Ärzten und Beamten ihr Mütchen kühlen, obwohl sie die Leistungen dieses Personals in Anspruch nehmen wollen. So viel Dummheit, Chuzpe und Selbstüberschätzung kann man sich doch gar nicht ausdenken! Was ist auch von Leuten zu halten, welche Polizisten – die doch zum Schutz der Bürger arbeiten – als Bullen schmähen. Und was sind das für Rowdies und Radikalinskis, die unsere Sicherheitskräfte mit Feuerwerkskörpern attackieren und krankenhausreif prügeln?

Wo ist der Staat, der Auswüchse dieser Art unmöglich macht? Wo bleibt die Entschlusskraft der Kommunen, die dem Müllskandal ein Ende bereitet? Unsäglich, wie sich an vielen Ecken und Enden unserer Städte der Unrat auf den Gehsteigen ausbreitet, obwohl öffentliche Abfalleimer an der nächsten Ecke aufgehängt sind. Geradezu unvorstellbar auch, was Massenveranstaltungen hinterlassen, wie dieses Jahr an Silvester.

Wenn die Work-life-balance der Amüsiergesellschaft aus dem Gleichgewicht kommt

Da sah man tonnenweise Reste der Knallkörper, Pappbecher, Bierflaschen, Currywurst-Schalen, Plastikbesteck, Tempotaschentücher und manch Ekelhaftes. Das lässt man einfach so fallen. Es deckt Gassen und Plätze ab und könnte durchaus in einem mitgebrachten Beutel selbst entsorgt werden. Aber, nein, am nächsten Tag kommen ja die Müllmänner und beseitigen den Auswurf einer gedanken- und verantwortungslosen Amüsiergesellschaft. Geht doch. Man muss schließlich feiern. Sonst kommt die Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht.

Nach uns die Sintflut. Nur, wie kann das alles sein? Ausgerechnet unter uns pingeligen Deutschen? Ist der überbordende, höchst private, sich zu Massen ballende, rücksichtslose Individualismus die Antwort auf den totalitären Überwachungsstaat vor mehr als siebzig Jahren? Haben die Eingeborenen von den Zuwanderern aus weniger zivilisierten Weltgegenden gelernt? Wollen viele Deutsche nicht mehr so sauberkeitsfanatisch sein, wie man es uns nachsagt? Aber womöglich liegt es einfach an den modernen Zeiten, in denen seit Jahrzehnten Wohlstand und Übersättigung herrschen, in denen auch ein fortdauerndes, drängendes Haben-Müssen, Konsumieren und wieder Ausscheiden die Räder am Laufen hält. Und das alles auf der Grundlage einer Freiheit, die so selbstverständlich erscheint, dass man sie nicht mehr zu schätzen weiß.

So geht schließlich jedes Maß verloren, so kann man sich alles erlauben, so tritt man einen Arzt in den Hintern, schlägt Polizisten oder wildfremden Passanten aufs Haupt, saut Straßen und Plätze ein. Diese Gesellschaft ist krank. Partielle Verwahrlosung heißt das Leiden.