Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer haben ihre jeweiligen Pläne in der Flüchtlingspolitik nicht zu Ende gedacht. Nun laufen die Dinge aus dem Ruder – und beide müssen büßen, meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Es war eine denkwürdige Stunde, weit oben im gläsernen Turm der damals noch hochgeachteten Deutschen Bank. Ich saß Alfred Herrhausen, dem Chef des Geldhauses, in seinem gelackten Büro gegenüber, um nach ausführlichem Frage-und-Antwort-Spiel ein Porträt für den Wirtschaftsteil unserer Zeitung zu schreiben. Dabei wollte ich dem Mächtigen nicht nur die abenteuerlichen Wege seiner Karriere entlocken. Ich wollte auch wissen, welche Überzeugungen und Handlungsweisungen ihn geleitet hatten. Von alledem ist mir besonders ein Grundsatz in Erinnerung geblieben: Es gelte immer, die Dinge zu Ende zu denken, so Herrhausens Bekenntnis, bevor man entscheidet. Aber wer tut das schon?

 

Die Hilfsorganisationen und ihre Anführer, zum Beispiel, die im Mittelmeer unterwegs sind, um Bootsflüchtlinge zu retten, verharren mit ihren Gedanken vorweg im wohltätigen Augenblick. Und natürlich ist es gut, auch geboten, Menschen in Seenot vor dem Ertrinken zu retten. Das ist gar keine Frage. Andererseits stecken diese Wohltäter in dem Dilemma fest, das die gesamte Flüchtlingsproblematik so schwer lösbar macht. Ihre Güte zieht neue Flüchtlinge nach, macht viele davon sehr unglücklich und befeuert das Geschäft der Schleuser.

Rettungspharisäer betreiben Wohltätigkeit als Geschäft

Doch das ist längst nicht alles. Wo mehr Flüchtlinge unterwegs sind, werden mehr ertrinken, da die Helfer ja nicht wie der liebe Gott allgegenwärtig sein können. Und was geschieht nach der Rettung mit denen, die überleben? Was widerfährt diesen armen Leuten, wenn sie wie eine Ladung Rüben in Italien, Griechenland, Malta oder Spanien an Land gekippt werden? Der Herr Kapitän und seine Helfer klopfen sich zufrieden auf die Brust. Sie haben doch so menschlich gehandelt, besser als all die Untätigen. Sie sind die Guten, die Gottesfürchtigen, die Flüchtlingsfreunde. Sie sprechen sich selbst selig und fühlen sich wunderbar, diese Rettungspharisäer. Dabei betreiben sie Wohltätigkeit als eine Art Geschäft. Nach ihnen die Sintflut. Die spült die Geretteten dann oft in irgendwelche, zum Teil schrecklich unzulängliche Lager, in endlose Verfahren, in prekäre Verhältnisse, im besten Fall am Ende in Jobs, die sonst niemand will – viele auch in die Illegalität. Andere sehen sich angefeindet. Auf die Willkommensfreude folgte die Furcht vor Überfremdung. Denn nur wenige unter den Migranten entsprechen dem Bild von den tüchtigen Ärzten und Ingenieuren, die uns geschenkt würden, jenes Bild, das eine Zeit lang vor allem von den Grünen herumgereicht wurde. Auch für Einwanderer, sofern sie nicht zu den im Sinne des Grundgesetzes wahrhaft Asylberechtigten zählen, kann folglich gelten, dass sie ihre Unternehmung nicht zu Ende gedacht haben.

Oft mehr Elend als Erlösung in der EU

Vielleicht würde es ihnen zu Hause besser ergehen. Denn es sind ja nicht die Allerärmsten, die sich auf den Weg machen. Es sind diejenigen, die immerhin die Reise und die Schleuser bezahlen können. Dann kommen sie an und unter Umständen nicht weiter. Oft ist es mehr Elend als Erlösung, was sie erwartet oder was sie in Zukunft, wenn die EU-Beschlüsse tatsächlich greifen, noch schlimmer erwarten wird! Solange das nicht vernünftig, menschenwürdig und die weiteren Entwicklungen einbeziehend geregelt ist, können nur Frustration und Aggression die Folge sein.

Auch Angela Merkel, unsere bedächtige Machtmatrone, hat – nach der spontanen Energiewende – mit der Flüchtlingsentscheidung von 2015 schon zum zweiten Mal nicht ausreichend nachgedacht. Es war eben so schön, so menschenfreundlich, ein glücklicher Moment politischer Güte. Hätte sie dafür nicht den Friedensnobelpreis verdient? Und seht doch, wie hübsch die Cheek-by-cheek-Fotos mit den strahlenden syrischen Männern aussehen! Das passte in die Atmosphäre jener Tage. Leider machte es nicht nur aus der oft als kühl gescholtenen Kanzlerin eine Herzenserwärmerin. Es machte auch die deutsche Willkommenskultur in der ganzen Welt populär. Und dann kamen sie.

Von Erdogan und Seehofer gedemütigt

Allerdings kamen ein paar mehr als gedacht und nicht nur die Bedürftigen und Asylberechtigten. Deshalb erschraken etliche Deutsche und wählten fortan die AfD. Es erschrak auch mancher Engländer und verhalf dem Brexit zum Sieg. Andere Europäer wandten sich ab. Sie waren ja nicht gefragt worden. Das alles hat Angela Merkel nicht gewollt. Seither tut sie heimlich Buße, versucht den Schaden einzudämmen, Zäune zu errichten. Aber das ist schwer in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik, der zu alledem eine historische Last trägt. Es ist ein mühseliges und entwürdigendes Geschäft.

Die deutsche Kanzlerin musste vor dem Autokraten Erdogan zu Kreuze kriechen, damit er die Migranten nicht nach Europa lässt. Sie musste sich von Horst Seehofer mehrfach demütigen lassen. Dabei trägt diesen rachsüchtigen Provinzfürsten ebenfalls ein eifernder Impuls in seiner Fehde mit der Preußin. Die für seine Restlaufbahn tödlichen Folgen hat er offenbar nicht bedacht.

Zu viel Gefühl und die kurzfristige Geringschätzung des Gedankens – nach Max Weber ein Übergewicht von Gesinnungsethik im Angesicht der Ethik des Verantwortens – wird aber auch Angela Merkel ihre Ämter kosten. Um den Bayer zur Raison zu bringen, drohte sie jüngst mit ihrer Richtlinienkompetenz. Aber wenn sie schon mit Worten darauf verweisen muss, ist ihr die Macht doch längst abhandengekommen.