Bergamotte, Zitrone, Orange und Lavendel – mit einem längst verloren geglaubten Erfrischungstuch, das nostalgische Gefühle weckt, hat sich unser Kolumnist Mirko Weber beliebt gemacht.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - In Passau gab es aus nachvollziehbaren Gründen Anfang der Woche weder Strom noch ein Netz – und von den Uferbänken, auf denen man zu fast jeder Jahreszeit hier immer so schön sitzt, war nichts mehr zu sehen. Der Himmel drückte schwarz hinunter, die Flussmassen schoben braun vorbei. Es war kalt, es regnete, und dann kam auf dem Rückweg – es war jetzt Zeit zu schreiben – Deggendorf.

 

Es gibt Rockbands, und es sind nicht die schlechtesten, die behaupten, dass sie Musik machen, wo immer eine anständige Steckdose in der Nähe ist. Wenn ich ein richtiger guter Musiker wäre, würde ich das, glaube ich, auch so handhaben. Aber auch ohne ein Instrument in der Hand bin ich unterwegs eigentlich immer mit den Augen auf der Suche nach Steckdosen. Es schreibt sich leichter, auch wenn der Akku sagt, er schaffe das schon noch. Das Verhältnis von Akkuanzeigen zur Wahrheit wird meiner Meinung nach überschätzt.

Ein unwiderstehlicher Duft

Jedenfalls erinnerte mich an eine geradezu sagenhafte Leiste in einem Kettenhotel in Deggendorf, in dem ich mal geschlafen hatte, als man nach Regensburg nur mit irgendwelchen Sondergenehmigungen hineinkam, weil der Papst aus Bayern auf Heimatbesuch war. Als damaliger Tourneeberichterstatter ließ ich Altötting hinter mir, kampierte in Deggendorf und fuhr mit dem Zug nach Regensburg: morgens um vier Uhr. Ungefähr das Gegenteil von dem, was ich „meine Zeit“ nennen würde. Andererseits gab es im durchbenediktisierten Bayern von damals zu dieser Stunde sogar Kaffee und Semmeln. Deggendorf also. Lobby leer, Leiste da – und los.

Als ich fertig war um Fünf, war die Küche zu, der Kaffee aus und die Rezeption verwaist. Wenn einer fragen würde, was Leere in einem höheren Sinn ist, würde ich (unter anderem) sagen: Deggendorfer Hotellobby vor der Teilsintflut. Aber dann kamen Menschen, eine ganze Busladung, und mit ihnen ein (für mich) unwiderstehlicher Duft. Lauter aufgekratzte, sich auf Schweinshaxn und Bayern im Allgemeinen freuende Frührentner aus Stadtkyll in der Eifel. Die Männer klopften heutzutage extrem selten noch zu sehende Zigaretten aus den Schachteln (Ernte 23, Reval) und gingen wieder vor die Tür, die Frauen enterten die Sitzecken („Dat Marie hätt immer der Strandblick . . .“, Antwort: „Ja, wer zuerst kommt . . .“) und entfalteten Taschentücher, die nach Kölnisch rochen. Kölnisch Wasser. Aqua mirabilis. Natürlich ist das vollkommen aus der Mode, aber ganz nach Geburtsjahrgang und Herkunftsgegend halt auch ein olfaktorischer Heimholer erster Güte: Bergamotte, Zitrone, Orange; Lavendel und Rosmarin; Neroli. Mehr nicht. Aber das Rezept ist natürlich geheim.

„Mannmannmann, riecht das nach Oma“

Um leichten Härtefällen des Lebens gut begegnen zu können, hatte ich jahrelang immer ein paar Erfrischungstücher im Rucksack, die nach Kölnisch rochen. Allerdings wurde dann das Verhältnis Individuum-Nostalgieprodukt auf eine harte Probe gestellt, als ich in der Halbzeitpause in der Münchener Arena meine Hände mit dem Kölnischtuch von ein paar Orangenschalenresten befreit hatte, und die Kollegen vom Bayerischen Rundfunk ironische Kommentare abgaben: „Mannmannmann, riecht das nach Oma . . .“ Seitdem habe ich auf neutralere Marken gesetzt.

Wie es der Zufall so wollte, ist ein gut verpacktes Kölnischtuch einen Tag nach Deggendorf wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht, als der zuständige, offenbar importierte Sicherheitsbeamte beim Münchner NSU-Prozess meine Tasche penibel genau gefilzt hat. Er holte das Tuch aus einer Falte, hob es gegen das Licht – und sagte feierlich: „Haben Sie mir jetz’ eine Freude jemacht, aber wirklisch. Köln, ne, schönste Stadt der Welt, oder?“ Ich rekapitulierte kurz meine schwäbische Frau, die schwäbischen Kinder, den schwäbischen Arbeitgeber, den bayerischen Wohnort und den genius loci überhaupt und sagte: „Kann man so sehen . . .“ Dann mussten wir beide natürlich lachen.