Sie geht wieder los: die hohe Kunst der Bazillenübertragung im öffentlichen Raum. Unser Kolumnist Mirko Weber hat im Theater Bekanntschaft mit einer wirklich sehr verschnupften Nase gemacht.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Wien - Als er am Anfang der Sitzplatzreihe im Burgtheater stand, hoffte ich noch, dass der Mann nicht mein Nachbar werden würde. Das Stück ging sechseinhalb Stunden. Der Mann zog die Schultern ein, hüstelte und ging irgendwie schief. Er war, das konnte man mit einem Blick erkennen, im Moment in seinem Körper nicht richtig zu Hause respektive sein Körper nicht recht bei sich daheim. Der Mann hatte Schnupfen – und nicht zu knapp. Wie um meine Vermutung sofort zu bestätigen, nieste er laut, ohne eine Hand oder Vergleichbares auch nur ansatzweise ins Spiel zu bringen, grummelte, schniefte und rumpelte weiter. Im Übrigen tadellos angezogen, aber ein Schnupfen im schwarzen Anzug ist keinen Deut weniger Schnupfen, nur verkleidet. Der Anzug kam näher, ließ sich in die Polster fallen (die hübsch verschlissen sind), registrierte, dass seine Bandscheibe „Hallo?“ sagte, stöhnte und griff zu einem Papiertaschentuch. Dann wurde es dunkel.

 

Ich fürchte rein gar nichts auf dem Theater. Mögen Sie literweise Blut verspritzen, sich ausziehen oder furchtbar verkleiden, nicht sprechen können, oder, schlimmer, nicht richtig sprechen dürfen: Man kann über alles reden beziehungsweise schreiben. Was ich fürchte, sind Sitznachbarn im Theater, die erkennbar außer Form sind und sich einem Privatdrama hingeben: gar nicht eingebildete Kranke also, nachlässig oder hingebungsvoll in aller Öffentlichkeit mit der Selbstpflege beschäftigt. Mein Mann war von der ersten Sorte. Er hatte einen ordentlichen Katarrh, jedoch nur ein einziges ernst zu nehmendes Taschentuch, das er in stets neuen Kombinationen zusammenfaltete. Dazu die obligatorischen Geräusche, nämlich der Klang von jemandem, der schnaufen will, aber nicht schnaufen darf. Jedenfalls nicht besonders laut. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen. Die Inszenierung kam dem Mann entgegen, weil sie in regelmäßigen Abständen zur Sinnesschärfung ein paar donnermetallische Akkorde einstreute. Mein Nachbar spielte dazu gestopfte Trompete. Musikalisch war er. Immerhin.

Soll der arme Mann das gute Theatertaschentusch bekommen?

Nach der ersten Pause schaute es so aus, als habe er aufgegeben. Erst als Hamlet die obligatorische Frage nach Sein oder Nicht-Sein gestellt hatte, kreuzte der Rekonvaleszente, angeschoben von einem Saaldiener, wieder auf. Zuerst hatte ich ihn eine Sekunde lang für Hamlets Vater gehalten, der ja bekanntermaßen durch dieses Stück geistert. Aber es war dann doch der Trompeter. Kurz (wir hatten ja noch ein paar Stunden vor uns) war ich versucht, ihm mein Taschentuch anzubieten. Ich brauchte es ja nicht. Noch nicht.

Schnell ließ ich den Gedanken wieder fallen. Mein Theatertaschentuch ist sehr groß und aus Stoff, außerdem hänge ich dran, und sowieso hätte es nur Verwicklungen gegeben, von denen wir aber eh schon genug hatten, auf und vor der Bühne. Am Ende fiel mir eine der vielen wunderbaren Theatergeschichten von Alec Guinness ein. Daheim schlug ich sie (im Tagebuch „My Name escapes me“) nach. Guinness’ Nebensitzer, der „eigentlich ins Bett gehört hätte – oder ins Krankenhaus“, Sitz 4, Reihe A, wie der wunderbare Schauspieler später über einer Kraftbrühe verzeichnet, ähnelte dem meinen ziemlich. Guinness macht das Beste aus seiner Lage und schickt dem Inhaber des Platzes halb ironisch einen „schönen Dank“ hinterher, weil er selber am nächsten Tag mit einem „unterhaltsamen Buch gemütlich im Bett bleiben“ kann. Andererseits: Guinness war wohlhabend und längst pensioniert. Als ich am nächsten Morgen wach wurde, stellte ich ziemlich dankbar fest: Ich war noch einmal davon gekommen.