In Berlin wird an diesem Wochenende der Fall der Mauer vor 25 Jahren groß gefeiert. Dieser 9. November 1989 zeigt im Nachhinein, dass jeder Einzelne den Unterschied machen kann, kommentiert die StZ-Redakteurin Katja Bauer.

Berlin - Wer kann sie genießen, die blühenden Landschaften? Wie steht es um die innere Einheit im Land? Hat endlich jeder begriffen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war? Es ist uns offenbar sehr zu eigen, zu jedem Anlass bange Fragen zu stellen und kritische Bilanzen zu ziehen – und sei er auch noch so erfreulich.

 

Dabei hat sich die Republik vor 25 Jahren über Nacht in eine Gefühlsachterbahn verwandelt, zumindest für ein paar Tage und Nächte. Man hörte die Worte Schabowskis und begriff sie erst gar nicht. Und dann ereignete sich das Undenkbare, es schwappte übers Land wie die perfekte Welle. Menschen tanzten auf der Mauer. Grenzsoldaten lächelten. Wildfremde Leute lagen einander in den Armen. Und Menschen, die einander gar nicht fremd waren, sich aber jahrelang nicht hatten sehen können, begegneten sich hinterm Schlagbaum. Es wurde völlig sinnlos vor lauter Glück mit irgendwelchen entfernten Verwandten und Freunden telefoniert, nur um zu fragen: „Siehst Du, was da gerade passiert?“ Und selbst, wer tief im Westen vor dem Fernseher saß und nicht einmal Angehörige in der DDR hatte, der wunderte sich vielleicht über den eigenen Gefühlshaushalt. Er hatte Gänsehaut vor Freude.

Pathos liegt dieser Republik nicht

Pathos ist für viele Menschen eine eher unangenehme, fremde Form des Ausdrucks. In unserer heruntergeregelten Gefühlswelt liegt die Fremdscham dicht daneben. Andere Nationen würden einen solchen Jahrestag bombastisch begehen. Aber das liegt dieser Republik wohl nicht, zu Recht, denn die Mauer hätte nicht existiert und am 9. November nie aufgehen müssen, hätte es nicht den Nationalsozialismus gegeben, an dessen Pogromnacht von 1938 dieser Tag immer auch erinnert. Allerdings muss man das Feld der nüchternen Analyse gar nicht verlassen um festzustellen: im vergangenen Jahrhundert gibt es keinen glücklicheren Tag für dieses Land.

Ein Grund für diese Freude war in diesem Moment vielleicht gar nicht intellektuell zu begreifen, aber zu erfühlen. Denn eigentlich ist da keine Mauer gefallen. Es wurde etwas gestürzt. Der 9. November 1989, diese Kapitulation der Mächtigen vor einem nicht mehr ruhigzustellenden Volk, ist kein punktuelles Ereignis. Er ist das schier unglaubliche Ende einer sehr langen Wegstrecke, die erst wenige und dann immer mehr mutige Menschen miteinander zurücklegten. Das kann keiner kleinreden, der gerne noch größer wäre als diese vielen Menschen, auch nicht Helmut Kohl in seiner unlängst offenbar gewordenen Einschätzung, wonach die DDR als marodes Gebäude ohnehin untergegangen wäre, weil der „Bimbes“ gefehlt habe. Wir wissen nicht, was wann wie unter anderen Umständen passiert wäre.

Der Mut war nicht mehr aufzuhalten

Aber wir wissen, was am 9. November möglich wurde, und wodurch: Es gab seit Jahren viele Menschen mit Mut. Sie entschieden sich im Kleinen gegen diesen Staat, sie zeigten, wo ihre ganz persönliche Grenze ist: Sie verweigerten eine Wahl, sie blieben von der Parade weg. Sie unterschrieben eine Petition. Sie sagten Nein zur Partei, zur Armee, zur Staatssicherheit. Sie verteilten Flugblätter. Sie gingen zu einer Versammlung. Sie stimmten ein in ein Gebet. Sie gingen auf die Straße. Für all das drohte ihnen Druck, Haft, psychische Zersetzung, Ausweisung. Sie hatten Zettel bei Freunden deponiert, auf denen stand, wer sich um ihre Kinder kümmern sollte, wenn sie verhaftet würden. Der Mut war nicht mehr aufzuhalten. Er schwappte zu denen, die sich anschlossen, und zu denen, die eine Kerze in ihr Fenster stellten und so den Schutz der Anonymität verließen.

Der 9. November ist ein Tag mit gewaltiger Botschaft: Er kann jeden daran erinnern, dass der und die Einzelne in der Lage ist, einen Unterschied zu machen, indem er sich der Stromlinie verweigert. Veränderung ist machbar. Wenn das kein Grund ist, vor Freude eine Gänsehaut zu kriegen!