Der umstrittene türkische Ministerpräsident Erdogan kommt zu einer Großkundgebung nach Köln. Dagegen erhebt sich großer Protest. Doch der Auftritt ist kein Grund zu hysterischen Reaktionen, meint der StZ-Redakteur Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Hat Recep Tayyip Erdogan am Samstag wirklich nichts Besseres zu tun? In seiner Heimat schlagen die Wogen hoch. Zensur, Korruption, Gängelung der Justiz – die Liste der Vorwürfe gegen den türkischen Ministerpräsidenten ist lang. Wer sich für Details interessiert, kann beim Bundespräsidialamt eine Kopie der Rede bestellen, die Joachim Gauck unlängst in Ankara gehalten hat. Mit dem Grubenunglück in Soma hat sich die Lage weiter zugespitzt. Erdogan hätte genug damit zu tun, die Gemüter zu beruhigen und die wahren Ursachen der Katastrophe aufzuklären. Stattdessen hält er es für opportun, einen Propagandatrip nach Deutschland zu unternehmen. Seine Visite in Köln stiftet auch hier Unfrieden.

 

Der Türken-Premier darf keinen freundlichen Empfang erwarten. Zehntausende wollen ihm ihren Unmut bekunden. Müssen wir das dulden? Manche Politiker verlangen, Erdogan solle seinen Wahlkampfausflug absagen. Der eine oder andere würde ihm am liebsten die Einreise verbieten. Andere fordern von den Türken in Deutschland, den provokanten Auftritt ihres Ministerpräsidenten zu boykottieren. Für Hysterie gibt es jedoch keinen Anlass.

Boykottaufrufe sind ein Signal der Hilflosigkeit

Die Bundesrepublik ist ein liberales, offenes Land. Hier kann jedermann das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen. Es gilt nicht nur für Deutsche. Wir müssen das aushalten, auch die Demonstrationen. Toleranz und Gastfreundschaft gelten allerdings nur, solange die hiesigen Gesetze beachtet werden. Bei früheren Besuchen bewegte sich Erdogan bisweilen hart am Rande der Volksverhetzung. Davor sollte er sich hüten. Und seine Kritiker wären gut beraten, ihren Protest in ziviler Form zu äußern – sofern sie sich als Repräsentanten einer besseren, weil demokratischeren Türkei empfehlen wollen.

Boykottaufrufe sind ein Signal der Hilflosigkeit. Wer gegen Erdogan ist, dem steht es frei zu demonstrieren. Wer ihn hören möchte, dem ist das nicht zu verbieten. Erdogan würde seinen eigenen Anliegen einen schlechten Dienst erweisen, wenn er den Auftritt in Köln zu einem neuerlichen Affront nutzen sollte. Die Fernsehbilder vom Samstag werden den Eindruck verstärken, dass er seine Landsleute polarisiert. Zudem dürfte die unwillkommene Stippvisite kurz vor der Europawahl eher denen Aufschub verleihen, die ohnehin der Ansicht sind, die Türkei habe in der EU nichts verloren – zumindest solange sie von diesem Mann regiert wird.

Verengter Blick

Erdogans Reisepläne befeuern den Streit über die doppelte Staatsbürgerschaft. Befürworter werfen konservativen Kräften vor, sie hätten sich zu lange gesträubt, eingewanderte Türken zu integrieren. Deshalb sei diesen gar nichts anderes übrig geblieben, als sich weiterhin an ihren „Sultan“ Erdogan zu halten. Skeptiker warnen, mit dem Doppelpass würden wir uns die Konflikte aus den Heimatländern der eingebürgerten Neudeutschen aufhalsen.

Beide Sichtweisen verraten eine verengten Blick. Ob mit oder ohne Doppelpass: die Identität vieler Menschen, die mit uns in Deutschland leben, lässt sich nicht mehr so schlicht verorten wie vielleicht noch zu Adenauers Zeiten. Wer seine Wurzeln in fremden Ländern hat, der wird die dortigen Debatten und Auseinandersetzungen selbstverständlich mit einem anderen Interesse verfolgen als sein Nachbar, dessen Vorfahren seit eh und je hier zu Hause sind. Wir können uns solchen Loyalitätskonflikten überhaupt nicht entziehen. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist weder eine Ursache dieser importierten Unruhe noch kann sie uns vollends davor bewahren. Es wäre borniert zu glauben, dass vielschichtige Identitäten eine Erfindung der Gegenwart sind – es gab sie schon im Römischen Reich. Wenn Deutschland für die Türkei ein Muster an Demokratie sein will, wie Gaucks Erdogan-Schelte glauben macht, darf uns wegen Querelen dieser Art nicht bange sein.