Auch 200 Jahre nach der Erstveröffentlichung sind die Märchen der Gebrüder Grimm noch so frisch wie am ersten Tag, befindet der StZ-Literaturkritiker Stefan Kister. Alle Versuche, die Märchen zu entzaubern, haben diese am Ende abgewehrt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Stellen Sie sich vor, Sie sitzen Ihrem Bankberater gegenüber: „Herr Müller, warum haben Sie eine so unheimliche Brille auf?“ – „Damit ich Ihre Schulden besser sehen kann.“ – „Und warum schauen Sie so streng über Ihren Brillenrand?“ – „Damit ich Sie besser einschüchtern kann!“ – „Herr Müller, warum . . .“ Nein, wir wollen die Szene gar nicht weiter ausmalen und haben im Übrigen gegen Bankberater nicht das Geringste einzuwenden. Es geht nur darum zu zeigen, wie leicht in alltäglichen Begegnungen plötzlich uralte Muster aufblitzen.

 

Jeder weiß, was gemeint ist, auch wenn es natürlich nur ein übles Märchen ist, dass in jedem Bankberater ein gieriger Wolf steckt. Und das ist das Verdienst jener Märchensammlung, die heute vor zweihundert Jahren das Licht der Welt erblickte, mit dem Anspruch freilich, viel, viel Älteres nur weitergereicht zu haben. Die Stimme des Volkes, die die Brüder Grimm aufgezeichnet haben, angeblich das Land durchstreifend wie die Späher der Königin auf der Suche nach Rumpelstilzchens Namen – diese Stimme ist in Wirklichkeit die Kopfgeburt zweier fantasiebegabter Philologen. Aber immerhin eine Kopfgeburt, die sich in dem Bewusstsein der Deutschen eingenistet hat, auch bei jenen, die vorlesende Eltern nur noch vom Hörensagen kennen und stattdessen eher auf die Dienste der Märchen-App eines Smartphones vertrauen.

Die Triebe wurden streng beschnitten

Spätestens jetzt also, zwei Jahrhunderte nach ihrer Erstveröffentlichung, sind die Kinder- und Hausmärchen der Grimms zu dem geworden, was sie ihrem Anspruch nach immer schon waren: ein kollektiver Erfahrungsschatz, ein Archiv wilder Wünsche und anstößiger Begehrlichkeiten, das mit sagenhafter Gelassenheit jene wiederkehrenden Attacken, Aufklärungs- und Auslöschungsversuche abwehrt, die auf seine Entzauberung zielen.

Dabei waren die Grimms selbst die ersten, die ihre Geschichten zu zähmen versuchten, indem sie in einer Folge von Redigaturen jene Triebe streng beschnitten, die Rapunzel einmal in einer frühen Fassung „die Kleider eng werden ließen“. Dennoch konnten sie nicht verhindern, dass sich später Tiefenpsychologen über ihre Gestalten hermachten. Vielleicht zählen Dornröschen, Rotkäppchen und Schneewittchen zu den Frauen der Literaturgeschichte, die philologisch am häufigsten auf ihre Jungfräulichkeit untersucht wurden – mit zweifelhaftem Ergebnis.

Heute soll alles märchenhaft sein

Während in Zeiten von Patchworkfamilien die eine Fraktion ihren Kindern archaische Strafexzesse an diabolischen Stiefmüttern lieber ersparen würde, spottet die andere über den Zuckerguss, unter dem die mediale Erzählmaschine die seltsam raue Märchenwelt mittlerweile begraben hat.

Märchenhaft soll heute alles sein, Urlaub, Essen und am liebsten auch noch die Verdauung danach. Doch so sehr ein Wirklichkeitsbegriff verflacht, der sich diesem Diktat anbequemt, so sehr gewinnt das eigentlich Märchenhafte gerade dort Kontur, wo es sich der Realität widersetzt: Hilfsbereite Zwerge unterlaufen das finstere Leistungsdenken, Siebenmeilenstiefel überfliegen die Mühen der Ebene, und ökonomische Talente vom Schlage eines Hans im Glück kalkulieren klug den Wertzuwachs durch Besitzlosigkeit. Aber Vorsicht! Wenn die Welt wirklich einmal märchenhaft die Augen aufschlägt, dann wird es ernst, dann könnte es wirklich sein, dass sich der Bankberater in Kürze in einen Wolf verwandeln wird.

Es ist in Mode gekommen, Geschichten für „auserzählt“ zu halten. Doch auch wenn sich das Vorlesen auf dem Rückzug befindet, auch wenn die Fantasy sich anschickt, das Märchen aus seinem Reich zu verdrängen – auserzählt ist hier nichts. Die Fantasie der Grimm’schen Sprache hält dagegen. Oder wie die Bremer Stadtmusikanten vielleicht gesagt hätten: Etwas Besseres als den Tod findet das Märchen allemal.