Bei den Kriegen in der Ostukraine und im Gazastreifen zählt das menschliche Leben nichts mehr, auch nicht die Würde des Todes. Die Brutalität dieser Konflikte ist unerträglich, kommentiert der StZ-Redakteur Michael Maurer.

Stuttgart - Die Macht von Bildern ist bisweilen schwer auszuhalten. Wer sich den Szenen der Trauer in den Niederlanden, der Brutalität in der Ostukraine oder der Verzweiflung im Gazastreifen aussetzt, der spürt diese Macht fast körperlich. Man hätte es kaum mehr für möglich gehalten, dass uns diese Kriegsgräuel noch derart bewegen. Nicht nach alledem, was einem in den vergangenen Jahren an Mord und Gewalt in Afghanistan, in Syrien, im Irak, in Nigeria, in Ägypten oder im Sudan zugemutet wurde. Man hätte abstumpfen können. Doch die Bilder dieser Tage machen wieder sprachlos vor Entsetzen. Dutzende tote Kinder; unter Beschuss genommene, umher irrende Familien; das bestialische Verbrechen an 298 unschuldigen Menschen und der unmenschliche Umgang mit ihren Leichen – all dies sprengt trotz der ständig präsenten weltweiten Grausamkeit die Vorstellungskraft.

 

Was so fern, so unvorstellbar schien, ist plötzlich ganz nah. Das gilt für den Kampf zwischen Israel und der Hamas, weil das Schicksal Israels die Deutschen aufgrund der Historie mehr bewegt als das vieler anderer Nationen, und weil die Zivilbevölkerung im Gaza-Krieg unendlich leidet. Das gilt für das Drama im Osten der Ukraine, weil es sich in Europa abspielt und weil dort Menschen getötet worden sind, von denen jeder der Nachbar, der Freund hätte sein können. Diese Nähe macht das Grauen so unerträglich. Und diese Brutalität.

Nicht einmal die Würde des Todes zählt

In beiden Kriegen zählt das Leben nichts mehr. Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs beweist dies; ebenso wie das rücksichtslose Vorgehen der israelischen Armee im dicht besiedelten Gazastreifen; oder die Strategie der islamistischen Hamas, die eigene Bevölkerung für den militärischen Erfolg zu opfern, wenn etwa Raketen in UN-Schulen deponiert werden. Bei den kriminellen Banden im Osten der Ukraine zählt nicht einmal mehr die Würde des Todes. Was wir überall sehen ist der Verlust der Menschlichkeit. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, dass dieser Verlust der Menschlichkeit exakt 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder kulminiert. Damals beschwor das Machtstreben in Europa die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts herauf, in der das Menschenleben komplett entwertet wurde. In der Gegenwart sind es regionale Konflikte um Macht, Einfluss oder Sicherheit, die – oft gepaart mit religiösem Fanatismus – in ähnliche Katastrophen münden. Alle diese bewaffneten Auseinandersetzungen haben eines gemein: nämlich die Bedenkenlosigkeit der Kriegsparteien, im Zweifel auch den letzten Rest eines Grundkonsenses für menschliche Gemeinschaft – wie er etwa in den Genfer Konventionen niedergeschrieben ist – zu zerbomben.

Sanktionen und Isolation sind stumpfe Waffen

Eine bittere Erkenntnis aus den aktuellen Konflikten ist, dass die Preisgabe dieses Konsens weitgehend folgenlos bleiben wird. Denn der Weltgemeinschaft fehlen nicht nur adäquate Mittel, sondern auch wenigstens halbwegs legitimierte und verantwortungsbewusste Ordnungsmächte, um die Gewalt einzudämmen. Sanktionen und Isolation sind angesichts der Skrupellosigkeit der Kriegsparteien stumpfe Waffen. Für militärische Optionen gibt es keine internationale Zustimmung. Sie ließen zudem die Konflikte ins Ungewisse eskalieren und sind moralisch kaum zu rechtfertigen.

„Krieg ist der Selbstmord der Menschheit und der Menschlichkeit“, hat Papst Franziskus in einer Predigt gesagt. Die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen geben ihm recht. Sie zeigen aber auch, dass sich zumindest Teile der Menschheit in diesem selbstmörderischen Tun nicht stoppen lassen. Selbst im 21. Jahrhundert ist es weder in Europa noch in der restlichen Welt gelungen, dagegen einen verlässlichen Schutz zu entwickeln. Was bleibt ist allein die Hoffnung, nicht mitgerissen zu werden. Auf Dauer ist das aber zu wenig.